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Buen Vivir in der Tagespolitik: Konflikte und neue Horizonte |
Natürlich haben die neuen Verfassungen und die Idee des Buen Vivir keine Inseln der Seligen in den Anden geschaffen. Die realgesellschaftlichen Prozesse sind widersprüchlich – wie sollte es auch anders sein. Und die Unterschiede zwischen beiden Ländern fallen ins Auge.
In Bolivien versteht sich die Regierung Evo Morales weiterhin als Regierung der sozialen Bewegungen. Die sozialen Bewegungen – insbesondere diejenigen mit indigenen Wurzeln – waren in den letzten Jahrzehnten zentraler politischer Akteur, vor allem im Widerstand gegen die jeweiligen Regierungen. Soziale Bewegungen an der Macht – das bedeutet normalerweise eine große Zerreißprobe, bis sich die Regierung in eine weitgehend «normale» Sachwalterin des Gemeinwohls verwandelt hat. In Brasilien ist dies geschehen, wobei die Zerreißprobe gar nicht so groß war. In Bolivien hingegen hält die Regierung weiterhin an ihren Transformationszielen fest und will diese zusammen mit den sozialen Bewegungen erreichen. Jason Tockman, der jüngst eine umfangreiche Analyse der sozialen Bewegungen Lateinamerikas vorgelegt hat, resümiert die Situation in Bolivien folgendermaßen: «Nowhere else in Latin America has a grassroots party maintained such close ties to social movements after taking office. And nowhere else have the boundaries between the party and the social movements been so confused.» (19)
Diese konfusen Beziehungen sind lange durch die Frontstellung gegenüber der Opposition überdeckt worden. Nachdem aber im Dezember 2010 die Regierung eine Erhöhung der Ölpreise durchsetzen wollte, brachen zum ersten Mal die Widersprüche auch im Pro-Morales-Lager offen auf. Gerade in Hochburgen der Regierung flammten heftige Proteste auf. Vertreter sozialer Bewegungen kritisierten offen die Regierungspolitik: «Seit ihr an der Regierung seid, haben sich Defekte, aber nicht eure Tugenden um den Faktor 10 verstärkt, was ist aus dem ‹gehorchend regieren› geworden?»(20)
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Die Regierung nahm aufgrund der Proteste tatsächlich die Preiserhöhungen zurück und stellte den Slogan «gehorchend regieren» wieder mehr in den Mittelpunkt ihrer Propaganda.
Zentral für die Frage, ob die Perspektiven des Buen Vivir politische Gestaltungskraft gewinnen kann, ist der Umgang mit Natur und Bodenschätzen. Und es wirkt wie eine Ironie des Schicksals, dass sich ausgerechnet in Bolivien wiede die Hoffnungen auf einen neuen Rohstoffboom richten. Bolivien verfügt über die weltweit größten Lithium-Vorkommen. Lithium wird für die Herstellung von Handy-Akkus und Batterien für Elektroautos benötigt und gilt damit als strategischer Rohstoff der Zukunft. Rund 120 Mrd. Euro jährlich sollen nach Angaben der Unternehmensberatung Economist Intelligence Unit die Ausbeutung der Lithium-Vorhaben dem Land einbringen können. Angesichts solcher Perspektiven fällt es schwer, Lithium der Mutter Erde zu überlassen. Die Lithium-Reserven finden sich im Gebiet der riesigen Salzwüste Salar de Uyuni, ihre Gewinnung würde weder indigene Völker noch die Biodiversität schädigen.
Im Februar 2011 verhandelte die bolivianische Regierung mit einer hochrangigen japanischen Wirtschaftsdelegation über eine strategische Partnerschaft. Dabei betonte Bolivien, dass es nicht um die bloße Ausbeutung von Rohstoffen geht und eine Wiederholung des Rohstoff- Fluchs, sondern um die Entwicklung einer eigenen Industrie auf Lithium-Basis. Morales verkündete gar die Vision eines Elektroautos «Made in Bolivia».(22)
Eine solche Rohstoffstrategie ist in ihrer Ausrichtung sicherlich sinnvoll, wenn auch das Ziel der Autoproduktion sehr ambitioniert klingt. Aber sie verlässt nicht die Pfade traditioneller Entwicklungsstrategien, sondern bleibt im Kontext des Neo-Extraktivismus.
Anders als in Bolivien versteht sich die Regierung Correa in Ecuador nicht als Repräsentantin sozialer Bewegungen. «Vielmehr sieht sie sich selbst als Protagonistin sozialen Wandels, verweist auf die Schwäche und mangelhafte Representativität real-existierender Bewegungen und bietet nur begrenzte Möglichkeiten des Zugangs und Dialogs» (Wolf 2010, S.13). Der von vielen als autoritär und personalistisch kritisierte Regierungsstil des Präsidenten Rafael Correa hat zum Zerwürfnis mit vielen seiner ehemaligen Unterstützern geführt, darunter auch Alberto Acosta. Auch wenn nach wie vor die Kritiker die Fortschritte der Regierung in der Sozialpolitik würdigen, wird Correa vorgeworfen, eine Bürgerrevolution ohne Bürgerbeteiligung zu machen (vgl. Lang 2010, S. 7).
In Sachen Buen Vivir waren zwei Konflikte emblematisch. Das 2009 in Kraft getretene Minengesetz stieß während seiner Beratung auf erbitterten Widerstand der sozialen Bewegungen. Sie kritisierten die unzureichenden Partizipationsmöglichkeiten bei der Vergabe von Lizenzen – und konnten sich nicht durchsetzen. Eine ähnliche Konfrontation provozierte 2010 der Entwurf für ein Wassergesetz. Hier konnten die sozialen Bewegungen einen Teilerfolg erringen. Die Verabschiedung im Parlament wurde verschoben und Raum für weitere Konsultationen zugelassen. In all diesen Konflikten argumentieren die sozialen Bewegungen mit der Verfassung und werfen der Regierung Verstöße gegen Buchstaben und Geist der neuen Verfassung vor.
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Fußnoten:
(19) https://nacla.org/node/6845
(20) Nach Papacek 2011, S. 10. Die Nr. 440 der Lateinamerika-Nachrichten geben mit Artikeln von Papacek und Nehe eine nützlichen Überblick über die aktuell Situation in Bolivien.
(21) http://klima-der-gerechtigkeit.de/2010/12/13/cancun-klimagipfel-cop16-ergebnis-analyse/#more-7130
(22) Alle Angaben nach Beutler 2011.
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