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Hans Schuhmacher Germanische Frau Hellenischer Kosmos
28.04.2017, 09:55

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Kapitel 5: Mythologie und Kosmologie - Fragmente des Denkens

Hellenischer Kosmos

Ich werde hier einige Aspekte der antik-mediterranen sowie der vormodern-christlichen Kosmologie kurz umreißen und schließlich noch ein paar Bemerkungen zur modern-kartesischen anfügen. Damit sind die wichtigsten Zeiträume wenigstens einigermaßen abgedeckt.

Was die Antike angeht, werde ich mich der hellenischen Kosmologie zuwenden statt der römischen. Bereits zur Zeit Caesars, mehr aber noch zur Zeit des Tacitus, übte die hellenische Kultur einen enormen Einfluss auf die römische aus. Für uns ist dies vor allem in zweierlei Hinsicht von Belang: Erstens wurde in vielerlei Hinsicht hellenische Bildung und Gelehrsamkeit zum Vorbild der römischen, und zweitens bewirkten kosmologisch-mythologische Vorstellungen der Hellenen deutliche Veränderungen der römischen Mythologie. Dies erklärt die vielerorts anzutreffende "Gleichsetzung" römischer Gottheiten mit hellenischen: das hellenische Bild veränderte das römische, nicht umgekehrt. Wenn zur Zeit des Augustus Vergil den Römern eine Abstammung vom trojanischen Heros Aeneas andichtete und sie somit aus dem italischen in den damals bereits altehrwürdigen hellenischen Kontext integrierte, so ist dies von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Ebenso von Bedeutung ist, dass gebildete Römer die von mir im Folgenden herangezogenen hellenischen Werke kannten, und zwar als ehrfurchtgebietende Vorbilder.

Der Mann, der hinging und fragte

Was die eigentliche Mythologie, also die Beschreibung mythischer Wesen, anbelangt, neigten übrigens beide Kulturen, die hellenische wie die römische, dazu, Gottheiten anderer Kulturen mit den ihrigen zu identifizieren. Wohlgemerkt, die Aussage war nicht, diese und jene Göttin sei "wie Artemis", sondern sie "sei Artemis". Die stellenweise sehr offensichtlichen Unterschiede der Darstellung und des Kults wurden selbstverständlich nicht übersehen, aber man kam keinesfalls auf die Idee, zu behaupten, die "anderen" lägen falsch. Das geschah nicht einmal dann, wenn die anderen "Barbaren" waren. In welchem Geist dies tatsächlich gesehen wurde, belegt Herodot angesichts der Ausschreitungen des Perserkönigs Kambyses gegen ägyptische Heiligtümer und Priesterschaften:

"Es ist mir nun vollkommen klar, dass Kambyses in eine schwere Raserei verfallen war, denn sonst würde er nicht daran gedacht haben, mit den Gebräuchen anderer Völker und dem, was ihnen heilig ist, seinen Spott zu treiben. Wolle man nämlich allen Menschen überlassen, sich die schönsten unter allen Gebräuchen auszuwählen, so würde jedes Volk nach näherer Prüfung sich die seinigen wählen, weil eben jedes Volk des Glaubens ist, seine Gebräuche seien bei weitem die schönsten. Man kann sich daher auch gar nicht denken, dass ein anderer Mensch als ein rasender solche Dinge verlacht und verspottet. Dass aber alle Menschen hinsichtlich ihrer Gebräuche so denken, kann man aus manchen anderen Zeichen entnehmen, darunter auch aus folgenden. Darius rief während seiner Herrschaft die anwesenden Hellenen zu sich und stellte an sie die Frage: um welchen Preis sie ihre gestorbenen Väter würden aufessen wollen. Sie erklärten, um keinen Preis würden sie dies tun. Darauf berief Darius die Inder, welche Kalatier genannt werden und ihre Eltern verzehren und fragte sie in Gegenwart der Hellenen, welche durch einen Dolmetscher alles, was gesprochen wurde, vernahmen: um welchen Preis sie es wohl über sich bringen würden, ihre gestorbenen Väter im Feuer zu verbrennen. Da schrien sie laut auf und baten ihn, doch nicht mit solchen Dingen zu kommen. So ist es nun einmal Sitte, und Pindar scheint mir Recht zu haben, wenn er in einem seiner Gedichte behauptet: die Sitte sei König über alles." (1)

Diese Aussage ist hochinteressant. Für Herodot musste Kambyses ein Wahnsinniger sein, übrigens nicht nur aus den von ihm genannten Gründen, sondern auch darum, weil auf Frevel gegen das Heilige unabwendbar schreckliche Vergeltung erfolgte, wovon Herodot sehr viele Beispiele schildert. Für Herodot steht außer Frage, dass der Perserkönig die Heiligtümer der Ägypter zu achten hat: er erhebt keine moralische Forderung, er spricht von der Beschaffenheit der Welt. Seine Aussage ist eine kosmologische.

Herodots Bericht über den anthropologischen Versuch des Perserkönigs Dareios zeigt beispielhaft seinen wissenschaftlichen Scharfblick. Für uns ist hier wichtig, dass im Rahmen seiner Kosmologie zwar einerseits überall die selben Götter verehrt werden und alles damit Zusammengehörige in die Sphäre des unantastbaren Heiligen gehört, andererseits die "Sitten" der Menschen aber durchaus verschieden sind. Niemand kann den Anspruch erheben, allein die Wahrheit über das Heilige zu kennen und daher alle anderen als im Irrtum befindlich zu charakterisieren. Darum wäre es auch unsinnig, von den indischen Kalatiern zu verlangen, die Gebräuche der Hellenen zu übernehmen.

Dies ist übrigens der diesbezügliche Unterschied zur Theosophie und ihren Derivaten: im Rahmen der Theosophie kennen nur die Anhänger des jeweiligen Derivats (beziehungsweise deren Oberhäupter) die "Wahrheit", und alle anderen sind im Irrtum befindliche Proto-Theosophen. So etwas behauptet Herodot keinesfalls, dessen Wissen übrigens in den allermeisten Fällen von den jeweiligen Priesterschaften stammte, die er wann immer möglich persönlich aufsuchte.

Diese Anschauung war es, die es den Hellenen ermöglichte, die Welt von der Mitte aus zu kartographieren: sie kartographierten ihre Welt, die der Hellenen, deren Mittelpunkt der Omphalos bei Delphi war, und sie kamen gar nicht auf den Gedanken, die Welt quasi für alle anderen mit zu kartographieren. Das Hellenentum war für sie Maß aller Dinge, weil sie Hellenen waren. Herodot hätte die Idee, alle anderen müssten Hellenen werden oder ihre Sitten und Gebräuche übernehmen, zweifellos als Ausgeburt bizarren Wahnsinns aufgefasst.

Bezüglich der Gottheiten der Hellenen (also der hellenischen Mythologie im engeren Sinne) vertrat Herodot folgende faszinierende Ansicht: "Woher aber ein jeglicher der Götter stammt, und ob sie alle immer da waren und von welcher Gestalt sie sind, das wissen sie (die Hellenen, Anm. d. Verf.), sozusagen, erst seit gestern und vorgestern. Denn Hesiodus und Homerus, die, wie ich glaube, nur um vierhundert Jahr und nicht mehr älter sind als ich, sind es, welche den Griechen ihr Göttergeschlecht geschaffen, den Göttern ihre Namen gegeben, sowie Ehren und Künste unter sie verteilt und ihre Gestalten bezeichnet haben. Die Dichter aber, welche angeblich vor diesen beiden Männern gelebt haben, sind, nach meiner Meinung wenigstens, erst nach denselben aufgetreten. Und jenes, das Erste, sagen die Priesterinnen zu Dodona, das letztere, was auf Hesiodus und Homerus sich bezieht, sage ich." (2)

Das heißt: all das, was ich oben als dasjenige beschrieben habe, was man in den üblichen Werken über Mythologie vorfindet, schreibt Herodot Dichtern zu. Wohlgemerkt: nicht die Götter selbst, sondern ihre Namen, ihr "Aussehen" ihre "Funktionsbereiche". Diese sind anscheinend nicht wirklich wesentlich, und daher können beispielsweise die Ägypter durchaus im Recht sein, wenn sie der Artemis einen anderen Namen geben, sie sich anders vorstellen und ihr andere "Funktionen" zuordnen.

Die mythologischen Schmetterlingssammler unserer Tage haben also laut Herodot, der ein erstklassiger Gewährsmann ist, das Wesentliche völlig verfehlt.

Der Poet der Götter

Wenn aber Namen, "Aussehen" und "Funktionsbereiche" nicht wesentlich sind für die hellenischen Götter, was dann? Wir werden sie uns kurz im Rahmen ihres Agierens betrachten müssen, und dies aus zwei Gründen. Der erste Grund ist, dass uns Schilderungen von agierenden Gottheiten von einem Autor vorliegen, der den kosmologischen Kontext nicht nur sehr genau kannte (nämlich Homer), sondern auch anscheinend sehr viel zu dessen Ausgestaltung beitrug. Der zweite Grund ist das Verständnis von Identität überhaupt (was eine Identität überhaupt ist und was wesentlich ist für sie, ist unter anderem auch eine kosmologische Frage), denn wir werden schwerlich herausfinden, was für die Identität von Gottheiten wesentlich ist, wenn wir nicht das Identitätsverständnis im Rahmen der zugehörigen Kosmologie wenigstens kurz betrachten.

Ich werde mit der Frage der Identität beginnen und dabei von der Grundbehauptung ausgehen, dass für Identität im Rahmen einer Kosmologie die selben Kriterien für Menschen wie für mythische Wesen gelten. Ich behaupte damit in keiner Weise irgend eine Wesensähnlichkeit oder gar -gleichheit, sondern lediglich, dass das, was wesentlich für die Identität ist, für alle gleichermaßen gilt. Es wäre ansonsten nämlich erforderlich, innerhalb derselben Kultur zwei verschiedene Denkweisen zu haben. Kosmologien beruhen auf Kohärenz und stellen sie wieder her, wenn es innerhalb der Kosmologie zu Verschiebungen, Umbrüchen und dergleichen kommt. Innerhalb jeder Kosmologie muss Identität, und zwar menschliche Identität, so definiert sein, dass sie keine Widersprüche mit dem "Rest" der Kosmologie hervorruft - was freilich bedeutet, dass Identität von Diskursen konstituiert wird. Gerade Identität muss aber als selbstverständlich erscheinen ("natürlich; schon immer so gewesen ..."), weil Menschen "wissen" müssen, wer sie sind, denn das bestimmt ihr Denken und Handeln. Gibt es ein anderes Identitätsmodell, entstehen Zweifel, Widersprüche und Probleme, wo sie nicht entstehen dürfen. Ich verweise auf historische Darstellungen des christlichen Gottes als Souverän in menschlicher Gestalt und mit Herrschaftsinsignien. Das war kein ideologisches Manöver, das war eine Identitätsvorstellung.

"Identität in der heroischen Gesellschaft", schreibt MacIntyre, "schließt Besonderheit und Verantwortlichkeit ein. Ich bin verantwortlich dafür, das zu tun oder zu lassen, was jeder, der meine Rolle innehat, anderen schuldet, und diese Verantwortlichkeit endet erst mit dem Tod. Ich muss bis zu meinem Tod tun, was ich tun muss. Darüber hinaus ist dies eine besondere Verantwortlichkeit. Ich muss, was ich tun sollte, in Hinblick auf, für und mit bestimmten Personen tun, und diesen und anderen Personen, die Mitglieder derselben lokalen Gemeinschaft sind, bin ich verantwortlich. Das heroische Selbst strebt selbst nicht nach Allgemeingültigkeit, auch wenn wir rückblickend vielleicht einen allgemeingültigen Wert in den Leistungen jenes Selbst erkennen." (3)

Das heißt: jemand zu sein, verpflichtet zu einem ganz bestimmten Handeln. Umgekehrt sagt dieses Handeln aus, wer man ist. Das ist etwas völlig anderes als ein Funktionsbereich. Apollon weist die höchste Vortrefflichkeit (arete) des Weissagens, des Bogenschießens, des Dichtens und Musizierens sowie des Heilens auf, weil er das alles tut. Er muss es tun, denn ansonsten wäre er nicht Apollon. Man kann nicht jemand sein, der etwas tun könnte, man kann nur jemand sein, der etwas tut.

Das sieht folgendermaßen aus: ganz zu Anfang von Homers Ilias beleidigt Agamemnon, der Heerführer der Achaier, den Chryses, und verweigert ihm die Herausgabe seiner geraubten Tochter. Chrsyes ist ein Priester des Apollon und wendet sich nunmehr an diesen. Er erinnert den Gott an seine Dienste und ruft ihn zur Hilfe:

"Also rief er betend, ihn hörete Poibos Apollon.
Schnell von den Höhn des Olymps enteilet´ er zürnenden Herzens,
Auf der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher.
Laut erschollen die Pfeile zugleich an des Zürnenden Schulter,
Als er einher sich bewegt?; er wandelte düster wie Nachtgraun;
Setzte sich drauf von den Schiffen entfernt und schnellte den Pfeil ab;
Und ein schrecklicher Klang entscholl dem schimmernden Bogen.
Nur Maultier? erlegt er zuerst und hurtige Hunde:
Doch nun gegen sie selbst das herbe Geschoss hinwendend,
Traf er, und rastlos brannten die Totenfeuer in Menge." (4)

Aber damit nicht genug: Apollons Eingreifen führt nicht nur zum Tod vieler Achaier und zur Rückgabe der Tochter des Chryses. Der Streit zwischen Agamemnon und Achilleus (der von vornherein für die Rückgabe der Chyseis gewesen war) entflammt erneut und mündet im "Zorn des Achilleus", der den Rahmen des gesamten Werkes bildet und noch sehr viel mehr Tragödien und Blutvergießen nach sich zieht. Homer nennt ausdrücklich Apollon als eigentlichen Urheber des Streits(5).

Das heißt: der Gott agiert nach dem selben Muster wie die Menschen. Er ist beleidigt worden, sein Priester, dem er verpflichtet ist, hat ihn zur Hilfe gerufen, also kommt er. Der Unterschied zwischen Apollon und einem Menschen besteht hier im Wesentlichen darin, dass das Kommen des Apollon "düster wie Nachtgraun" eine ganz andere Größenordnung von Konsequenzen hervorruft, als wenn ein Mensch einem, dem er verpflichtet ist, zur Hilfe kommt.

Weiterhin ist von Bedeutung, dass der Gott nicht irgend ein Geschehen anordnen kann, sondern sich persönlich zum Schauplatz begeben und handeln muss, wenn etwas geschehen soll. Aber das ist keineswegs die einzige Beschränkung der göttlichen Macht: selbst Zeus, der viel mächtiger und stärker als alle anderen Götter zusammen ist und gelegentlich allen gemeinsam Gewalt androht, entscheidet keinesfalls, was in der Menschenwelt geschieht: er kann es lediglich vorhersehen.

"Jetzo streckte empor der Vater die goldene Waage,
Legt´ in die Schalen hinein zwei finstere Todeslose,
Troias reisigem Volk und den erzumschirmten Achaiern,
Fasste die Mitt´ und wog; da lastete schnell der Achaier
Schicksalstag, dass die Schale zur nahrungssprossenden Erde
Niedersank, und der Troer zum weiten Himmel emporstieg.
Laut vom Ida herab nun donnert´ er, und sein entbrannter
Strahl durchzuckte das Heer der Danaer, jen´ ihn erblickend
Starreten auf, und alle durchschauerte bleiches Entsetzen." (6)

Auch der mächtigste aller Götter beherrscht nicht die Welt. Er ist ebenso wie alle anderen Wesenheiten eingebunden in ein Gefüge, das nicht seinem Willen untersteht. Ein Außerhalb gibt es nicht, "Sein" heißt innerhalb dieses Gefüges sein (7). "Wer in der heroischen Gesellschaft versuchen würde, sich von seiner ihm gegebenen Position zurückzuziehen, würde den Versuch unternehmen, sich selbst verschwinden zu lassen." (8) Wohlgemerkt: MacIntyre meint damit auch - und sogar primär - das intellektuell-mentale Zurückziehen, das Betrachten der Dinge von einem "neutralen" Ort aus. "Dem Selbst der Heldenzeit fehlt gerade jene Eigenschaft, die - wie wir schon gesehen haben - einige moderne Moralphilosophen für eine wesentliche Eigenschaft des menschlichen Selbst-Seins halten: die Fähigkeit, sich selbst von jedem Standpunkt oder jeder Ansicht zu lösen, gewissermaßen einen Schritt zurückzutreten und diesen Standpunkt oder diese Ansicht von außen zu betrachten." (9)

Es ist wichtig, wie das In-der-Welt-sein als im-Gefüge-sein gedacht wird. "Sein" bedeutet Jemand sein und als dieser Jemand zu agieren. Es ist auch unmöglich, von einem anderen Standpunkt aus zu denken; kein Gott und kein Mensch bei Homer denkt auch nur im Entferntesten daran, "objektiv" oder "neutral" zu sein. Das wäre auch sinnlos, denn alle sind Teilnehmer und begreifen sich ausschließlich als Teilnehmer, sie sind immer mittendrin. An dieser Stelle sei lediglich gesagt, dass das Zurückziehen - Donna Haraway nennt es den "göttlichen Trick" im monotheistischen Sinne, also das Einnehmen der Perspektive des Über-Souveräns (10) - mit all seinen Spielarten charakteristisch und unentbehrlich für die christlich-abendländische Zivilisation ist. Es fehlt diesbezüglich keinesfalls an kritischen Kommentaren, die ein enorm großes Spektrum umfassen. Es reicht von MacIntyre, dessen Hauptthese ist, dass die christlich-abendländische Zivilisation seit der Aufklärung unfähig ist, eine Moral zu bilden, über Foucaults Theorie der Dispositive und des Macht/Wissens (er teilte im Übrigen MacIntyres Ansicht bezüglich der Moral) und Mary Douglas´ Arbeiten zu "Institutionen" und Kosmologien, einer großen Reihe von Autorinnen und Autoren aus den Humanwissenschaften, besonders der Anthropologie, bis hin zum modernen wissenschaftlichen Feminismus. Wir werden, wie gesagt, noch darauf zu sprechen kommen, hier geht es darum, klarzustellen, dass man die homerische Welt nicht begreifen kann, wenn man diesen fundamentalen Unterschied bezüglich der Denkweise nicht versteht. Dies ist unter anderem - ein sehr wichtiger Punkt bezüglich der Kosmologie.

Eine faszinierende Dopplung besteht darin, dass im Rahmen einer Kosmologie, in der so gedacht und gehandelt wird, weil man sich wie oben beschrieben als in der Welt und im Gefüge begreift, auch die Götter in der Welt sind. Wo sollten sie sonst sein? Es gibt kein Außerhalb. Der Olymp ist ein physisch existierender Berg, und genau dieser Olymp ist die Wohnstätte der Götter. Der modern-kartesische Gott jedoch ist im Außerhalb, weswegen auch alles Spirituelle in der christlich-abendländischen Zivilisation im Außerhalb verortet wird. Wo das so ist, gilt der "göttliche Trick" nicht nur als legitime - vielerorts als die einzig legitime - Form des Denkens und wird sogar als elementar für das Menschsein angesehen. Ein schärferer Gegensatz in den Auffassungen von den Menschen und der Welt ist nicht denkbar, und die Materialisten sollten sich nicht einbilden, Epochales zu leisten, nur weil sie alles jenseits der kartesischen Grenzlinie für nichtexistent erklären, die Paradigmen des Kartesianismus aber beibehalten. Der Schritt, wie der Unterschied, ist geringfügig. Die Leistung des cogito und der "Objektivität" bestehen darin, die Welt als Objekt, die Menschen als Gespenster und die Körper als Roboter zu sehen und entsprechend zu agieren. Auch hat der schwebende Über-Souverän freilich das Recht, über alles und jeden zu Gericht zu sitzen, ohne zu wissen, was eine Moral ist.

Anscheinend haben wir eine wichtige Kernfrage bezüglich der Kosmologien gefunden: Wo ist das Heilige? Ist es in der Welt oder außerhalb? Dass dies äußerst wichtig ist bezüglich der Welt und der Menschen, konnte gezeigt werden.

Da ich an anderer Stelle bereits die Problematik der Übertragung von Glaubenssystemen auf spirituelle Systeme angesprochen habe, die offensichtlich nichts mit ihnen zu tun haben, möchte ich hier noch anhand eines Beispiels die Interaktion zwischen Mensch und Gottheit kurz vorführen. Grundsätzlich ist es bereits jetzt äußerst zweifelhaft, dass an Wesenheiten, die in der Welt gedacht werden, "geglaubt" wird - es sei denn, man wolle darüber diskutieren, ob man an Felsen glauben kann. Aber es ist völlig unnötig, eine Diskussion über Begrifflichkeiten anzufangen. Außerdem können wir hier, was im Rahmen unseres Themas nicht unwichtig ist, eine weibliche Gottheit in Aktion erleben.

Der V. Gesang der Ilias beginnt folgendermaßen:

"Jetzo schmückt´ Athene des Tydeus Sohn Diomedes
Hoch mit Kraft und Entschluss, damit vorstrahlend vor allem
Danaervolk er erschien´ und herrlichen Ruhm sich gewänne.
Flammen ihm hiess auf Helm und Schilde ihm mächtig umherglühn:
Ähnlich dem Glanzgestirne der Herbstnacht, welches am meisten
Klar den Himmel durchstrahlt, in Okeanos´ Fluten gebadet:
Solche Glut hiess jenem sie Haupt umflammen und Schultern,
Stürmt´ ihn dann mitten hinein, wo am heftigsten schlug das Getümmel." (11)

Wir werden nach dem Gesagten das "damit ... herrlichen Ruhm (er) sich gewänne" richtig einordnen können: Athene, die dem Diomedes sehr zugetan ist, will, dass er vortrefflich (arete) tut, was er tun muss, denn das ist der Zweck seines Daseins. Homer (wie übrigens auch die Saga-Autoren (12) beschreibt Charaktere ausschließlich, indem er schildert, was sie tun und sagen, denn freilich ist es das, was ihr Sein ausmacht. Wir können also damit rechnen, Diomedes (und auch Athene, für die dasselbe gilt) im Folgenden recht gut kennen zu lernen.

Diomedes poltert also mit seinem Streitwagen ins dichteste Getümmel und geht dort seiner Tätigkeit nach. Athene lockt währenddessen den Ares vom Schlachtfeld, der auf Seiten der Troer dort Aktivitäten entfaltet hatte, indem sie ihm weismacht, sie hielte es für das Beste, wenn sie beide sich aus der Angelegenheit herauszögen, denn das habe Zeus so verlangt. In Abwesenheit des Ares sticht Diomedes, wie von Athene gewünscht, hervor:

"Denn er durchtobte das Feld, dem geschwollenen Strome vergleichbar." (13)

Er wird gefährlich von dem Bogenschützen Pandaros verwundet, zieht sich aus dem Gefecht zurück und ruft seine Beschützerin an:


"Höre, des aigiserschütternden Zeus unbezwungene Tochter!
Wenn du mir je und dem Vater mit sorgsamer Liebe genahet
Im feindseligen Streit, so liebe mich nun, o Athene!
Lass mich treffen den Mann, und den fliegenden Speer ihn erreichen,
Welcher zuvor mich verwundet und nun frohlockend sich rühmet,
Nicht mehr schau ich lang das Licht der strahlenden Sonne!
Also rief er flehend, ihn hörete Pallas Athene.
Leicht ihm schuf sie die Glieder, die Füss´ und die Arme von oben
Nahe nun trat sie heran und sprach die geflügelten Worte:
Kehre getrost, Diomedes, zum mutigen Kampf mit den Troern;
Denn dir goss ich ins Herz die Kraft und die Stärke des Vaters.
Unverzagt, wie sie trug der reisige geschildete Tydeus.
Auch das Dunkel entnahm ich den Augen dir, welches sie deckte,
Dass du wohl erkennest den Gott und den sterblichen Menschen.
Drum, so etwa ein Gott herannaht, dich zu versuchen,
Hüte dich, seligen Göttern im Kampf entgegenzuwandeln,
Allen sonst; doch käme die Tochter des Zeus´ Aphrodite
Her in den Streit, die magst du mit spitzigem Erze verwunden." (14)

Ganz nebenbei wird hier die Frage der Wahrnehmbarkeit der Götter geklärt. Gewöhnlich können die Menschen sie nicht sehen, zumal sie sich oft der Gestalt von Menschen bedienen und sich als diese ausgeben. An anderen Stellen durchschauen Heroen dies auch von sich aus. Hat man aber irgendwie den Eindruck, Diomedes "glaube" an Athene? Wohl kaum. Sein "Wenn du je meinem Vater und mir beigestanden bist, dann komm jetzt und hilf mir" richtet sich an ein Wesen, dessen Existenz für ihn außer Zweifel steht und dessen Haltung er sich gegenüber als Liebe begreift.

Solcherart gestärkt und ermutigt, wütet Diomedes noch viel schlimmer als vorher unter den Troern. Schließlich treten ihm die Heroen Pandaros und Aineas gemeinsam entgegen - eine derart gefährliche Konstellation, dass Diomedes´ Wagenlenker ihm zum Rückzug rät. Diesen aber ficht die Gefahr nicht an, er vertraut völlig auf Athene und ist nur um eines besorgt, nämlich dass ihm das kostbare Pferdegespann der beiden eventuell abhanden kommen könnte, wenn er beide erledigt hat. Er tötet den Pandaros und verwundet Aineas schwer, was Aphrodite auf den Plan ruft, deren Sohn Aineas ist. Während der Wagenlenker nach der Anweisung des Diomedes die kostbaren Pferde wegführt, verwundet Diomedes nach dem Rat der Athene die Aphrodite:

"Als er nunmehr sie erreicht, durch Schlachtgetümmel verfolgend,
Jetzo die Lanze gestreckt, der Sohn des erhabenen Tydeus,
Traf er daher sich schwingend mit eherner Spitze die Hand ihr,
Zart und weich; und sofort in die Haut ihr stürmte die Lanze
Durch die ambrosaische Hülle, die ihr Charitinnen gewebet,
Nah an der Hand in die Fläche: Da rann ihr unsterbliches Blut hin;
Klarer Saft, wie er Wunden der seligen Götter entfließet,
Denn nicht essen sie Brot, noch trinken sie funkelnden Weines;
Blutlos sind sie daher und heißen unsterbliche Götter." (15)

Was hier zur Beschaffenheit der Götter gesagt wird (nämlich dass sie körperlich in der Welt sind und verwundbar), ist so eindeutig, dass man es nicht weiter kommentieren muss. Ich möchte hier nur hervorheben, wie weit das Vertrauen des Diomedes gegenüber Athene geht: dass er sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, ist für ihn völlig selbstverständlich, aber mit dieser Aktion – er legt Hand an eine Göttin – gefährdet er das Leben und Gedeihen seiner Verwandten und Nachfahren, denen er in totaler Weise verpflichtet ist. Die Missgeschicke und das schreckliche Ende des Agamemnon beispielsweise hängen mit dem Frevel seines Vaters Atreus zusammen, der das gesamte Haus der Atreiden heimsucht. Aber Diomedes tut genau das, was Athene ihm geraten hat und baut felsenfest darauf, dass sie ihn nicht im Stich lassen wird. Diesen Beistand wird er nach Zeus´ eigenen Worten zu Aphrodite, die sich bei ihm beklagt, bitter nötig haben:

"Tor! Er erwog nicht solches, der Sohn des mutigen Tydeus
Dass nicht lange besteht, wer gegen Unsterbliche kämpfet,
Dass nicht Kinder ihm einst an den Knien: mein Väterchen! stammeln,
Ihm, der gekehrt aus Krieg und schreckenvoller Entscheidung.
Darum hüte sich jetzt, wie tapfer er sei, Diomedes,
Dass nicht stärker denn du ein anderer gegen ihn kämpfe,
Dass nicht Aigileia, die sinnige Tochter Adrastos´
Einst aus dem Schlaf aufschluchzend, die Hausgenossen erwecke,
Schwermutsvoll um den Jugendgemahl, den besten Achaier,
Sie, das erhabene Weib von Tydeus´ Sohn Diomedes." (16)

All das riskiert er sehenden Auges. Es wird jetzt aber wirklich gefährlich für ihn, denn Apollon ist zornentbrannt auf den Plan getreten, um den Aineas zu retten.

"Dort auf Aineas stürzte der Rufer im Streit Diomedes,
Wissend zwar, dass selber Apollons Hand ihn bedeckte.
Doch nicht scheut´ er den Gott, den gewaltigen, sondern begierig
Strebt´ er zu töten den Held und die prangende Rüstung zu rauben.
Dreimal stürzt´ er hinan, voll heißer Begier, zu ermorden;
Dreimal erregte mit Macht den leuchtenden Schild ihm Apollon.
Als er das vierte Mal drauf anstürmete, stark wie ein Dämon,
Rief mit schrecklichem Drohn der treffende Poibos Apollon:
Hüte dich, Tydeus´ Sohn, und weiche mir! Nimmer den Göttern
Wage dich gleich zu achten, denn gar nicht ähnlichen Stammes
Sind unsterbliche Götter und erdumwandelnde Menschen!
Jener sprach´s, da entwich mit zauderndem Schritt Diomedes,
Scheuend den furchtbaren Zorn des treffenden Phoibos Apollon." (17)

Apollon trägt den Aineas fort und beredet den Ares, wieder ins Geschehen einzugreifen. Dieser tut das auch, und Diomedes, der ihn erkennt, rät den Achaiern zum Rückzug. Sie werden zu ihrem Lager zurückgedrängt, worauf Here und Athene ihnen zur Hilfe eilen. Athene tritt zu Diomedes und verspottet ihn, wie wenig er doch seinem tapferen Vater gliche:

"Ihr antwortete drauf der starke Held Diomedes:
Wohl erkenn ich dich, Göttin, des Aigiserschütterers Tochter;
Drum verkünd´ ich dir frei und unverhohlen die Wahrheit.
Weder lähmt mich Furcht, die entseelende, weder die Trägheit,
Sondern annoch, o Herrscherin, gedenk ich deines Gebotes:
Niemals seligen Göttern im Kampf entgegen zu wandeln,
Allen sonst; doch käme die Tochter Zeus´ Aphrodite
Her in den Streit, die möchte ich mit spitzigem Erze verwunden.
Darum weich anjetzo ich selber zurück und ermahn auch
Andre von Argos´ Volk, sich hieher alle zu sammeln;
Denn ich erkenne den Ares, der dort das Treffen durchwaltet.
Drauf antwortete Zeus´ blauäugige Tochter Athene:
Tydeus´ Sohn, Diomedes, du meiner Seele Geliebter,
Fürchte du weder den Ares hinfort, noch einen der andren
Götter umher: so mächtig als Helferin nah´ ich dir selber!
Mutig, zuerst auf Ares gelenkt die stampfenden Rosse!
Dann verwund´ in der Näh´ und scheu´ nicht Ares, den Wütrich,
Jenen Rasenden dort, den verderbenden Andrenumandren!
Ihn, der neulich mir selbst und zugleich der Here gelobte
Troias Volk zu bekämpfen und beizustehn den Argeiern
Aber anjetzt die Troer verteidiget, jener vergessend!
Jene sprach´s, und sofort den Sthenelos trieb sie vom Wagen,
Ihn mit der Hand abreißend, und nicht unwillig entsprang er.
Doch sie trat in den Sessel zum edlen Held Diomedes,
Heiß in Begierde des Kampfs; laut stöhnte die buchene Achse,
Lastvoll, tragend den tapfersten Mann und die schreckliche Göttin.
Geißel sofort und Zügel ergriff nun Pallas Athene,
Eilt´ und lenkt´ auf Ares zuerst die stampfenden Rosse.
Jener entwaffnete dort der Aitolier tapfersten Krieger,
Periphas, groß und gewaltig, Ochesias´ edlen Erzeugten:
Diesen entwaffnete Ares, der Blutige: Aber Athene
Barg sich in Aides´ Helm, damit nicht Ares sie sähe.
Als nun der mordende Ares ersah Diomedes, den edlen,
Ließ er Periphas schnell, den Gewaltigen, dort in dem Staube
Liegen, allwo er zuerst des Erschlagenen Seele geraubet,
Eilte dann grade daher auf den reisigen Held Diomedes.
Als sie nunmehr sich genaht, die Eilenden gegen einander,
Vor dann streckte der Gott sich über das Joch und die Zügel
Mit erzblinkender Lanz´, in Begier, ihm die Seele zu rauben.
Doch mit der Hand sie ergreifend, die Herrscherin Pallas Athene,
Stieß sie hinweg vom Sessel, dass nichtigen Schwungs sie vorbeiflog.
Jetzo erhob sich auch jener, der Rufer im Streit Diomedes,
Mit erzblinkender Lanz´, und es drängete sie Pallas Athene
Gegen die Weiche des Bauchs, wo die eherne Binde sich anschloss:
Dorthin traf und zerriss ihm die schöne Haut Diomedes,
Zog dann die Lanze zurück. Da brüllte der eherne Ares,
Wie wenn zugleich neuntausend daherschrien, ja zehntausend
Rüstige Männer im Streit, zu schrecklichem Kampf sich begegnend.
Rings nun erbebte das Volk der Troer umher und Achaier,
Voll von Angst: so brüllte der rastlos wütende Ares.
Jetzo wie hoch aus Wolken umnachtetes Dunkel erscheinet
Wenn nach drückender Schwül´ ein Sommersturm sich erhebet:
Also dem Held Diomedes erschien der eherne Ares
Als er in Wolken gehüllt auffuhr zum erhabenen Himmel." (18)

Ein Kommentar erübrigt sich im Grunde. Die Interaktion von Gottheiten und Menschen ist klar ersichtlich. Was Diomedes betrifft: man sieht, was sein Vertrauen zu seiner Göttin ihm einbrachte. Er war übrigens einer der wenigen Heroen, die wohlbehalten nach Hause kamen.

Das Eingebundensein aller (Göttern wie Menschen) in das Gefüge der Welt verleiht der Weissagung und den Vorzeichen einen außerordentlich hohen Stellenwert. Weissagung und Zeichendeutung bedeuten nämlich, dieses Gefüge sehen und überschauen zu können. Es ist eine angemessene Tätigkeit für Götter - wie wir ja gesehen haben. Homer beschrieb nicht etwa die Welt seiner Zeitgenossen, sondern die der Heroen der "alten Zeit", aber auch Jahrhunderte nach ihm, zu Zeiten des Herodot, unter ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen, galten die Grundlagen der homerischen Kosmologie durchaus noch - wie Herodot ja bezüglich der Götter betont - und der Stellenwert der Weissagung war erhalten geblieben. Dies ermöglicht es uns, einen kurzen Blick auf die "klassische Zeit" zu werfen und uns anzusehen, wie der Umgang der Menschen mit den Gottheiten in der Praxis aussah.

Der Mann, der nach Hause ging

Ein erstklassiger Gewährsmann ist der Athener Xenophon, ein jüngerer Zeitgenosse des Herodot. Sein wichtigstes Werk, die "Anabasis" ist ein Bericht vom Rückmarsch hellenischer Söldner aus dem Inneren des Perserreiches nach Hellas, nachdem ihr Auftraggeber, der Thronprätendent Kyros, zwar die Schlacht mit seinem Gegner gewonnen hatte, aber dabei selbst umgekommen war. Xenophons Publikum sind seine hellenischen Zeitgenossen, und seine Intention ist offensichtlich, seine eigene Rolle bei dem Unternehmen herauszustreichen. Opferbräuche und Weissagungen tauchen bei ihm also als Teile des Berichts auf und sind nicht Gegenstand der Darstellung, was intentionale Einfärbung in dieser Hinsicht weitestgehend ausschließt. Der Bericht selbst enthält sehr viele "Nahaufnahmen" von Szenen, die Xenophon allem Anschein nach lebhaft im Gedächtnis geblieben sind, und allein das macht diesen Text zu einer enorm wertvollen Quelle.

Nachdem die Perser nach oben erwähnter Schlacht eidbrüchig die Strategen (Feldhauptleute) der Hellenen in eine Falle gelockt und umgebracht hatten, findet eine Versammlung der Söldner statt, auf der entschieden werden soll, was nun zu tun sei. Auf dieser spricht Xenophon, der anstelle eines der Ermordeten zum Mit-Anführer gewählt wurde:

"Seine Rede begann er folgendermaßen: "Über die Meineidigkeit und Treulosigkeit der Barbaren hat Kleanor gesprochen, ich glaube, auch ihr kennt sie. Wenn wir jetzt wieder mit ihnen in freundschaftlichen Verkehr treten wollten, dann müssten wir sehr mutlos sein, haben wir doch gesehen, wie es den Strategen, die in Treue und Glauben sich in ihre Hände begeben hatten, ergangen ist. Wenn wir aber entschlossen sind, mit den Waffen sie für ihre Verbrechen zu bestrafen und von jetzt an gegen sie auf jede Weise Krieg führen, so haben wir mit der Hilfe der Götter viele und schöne Aussichten auf Rettung." Als er das sagte, nieste einer. Als das die Soldaten hörten, huldigten sie alle zugleich und aus eigenem dem Gotte, und Xenophon sagte: "Männer, da uns, während wir noch über unsere Rettung verhandelten, ein Zeichen von Zeus, dem Retter erschienen ist, bin ich der Ansicht, diesem Gotte zu geloben, Rettungsopfer darzubringen, sobald wir in befreundetes Gebiet gekommen sind, außerdem wollen wir auch den anderen Göttern Opfer nach unseren Möglichkeiten geloben. Wer das gutheißt", sagte er, "hebe die Hand." Und alle streckten sie empor. Danach beteten sie und sangen den Paian." (19)

Keiner der Anwesenden bezweifelt, dass das Niesen des Söldners den Beistand des Zeus signalisiert, und aus Xenophons Schilderung kann man schließen, dass dieses Ereignis bei der Entscheidungsfindung den Ausschlag gab. Freilich hat es nicht an neuzeitlichen Versuchen gefehlt, dergleichen als den Aberglauben des "gemeinen Volkes" abzutun, während die "griechische" "Oberschicht" „schon wusste", das es freilich gar keine Götter gab. Das ist nichts als die übliche christlich-abendländische Überheblichkeit, denn Xenophon als Schüler des Sokrates deutet derlei ebenso wenig an wie beispielsweise der brilliante politische Theoretiker Thukydides, auf den wir noch kurz zu sprechen kommen werden. Ganz im Gegenteil, Xenophon gibt an, sein Entschluss, in der beschriebenen Weise tätig zu werden, sei durch einen Traum zustande gekommen, den er schildert, dem Zeus zuschreibt und von dem er sagt: "Was es aber bedeutet, einen solchen Traum zu haben, kann man aus den Ereignissen nach dem Traum erkennen, denn es geschah folgendes." (20) Für Xenophon ist der Vorzeichencharakter eines solchen Traumes außerhalb jeden Zweifels, und er erwartet von seinen gebildeten Zeitgenossen genau diese Auffassung.

Selbstverständlich findet das dem Zeus und den anderen Göttern gelobte Opferfest auch statt, und zwar, nachdem die in der Beratung genannte Bedingung eingetreten ist, nämlich: die Söldner sind am Schwarzen Meer bei einer hellenischen Kolonie angekommen, "sie hatten jetzt nämlich genug Rinder, um Zeus dem Retter und dem Herakles zu opfern und auch den anderen Göttern die Gelübde zu erfüllen." (21) Wenig später geht Xenophon daran, seine persönlichen Verpflichtungen zu erfüllen. "Xenophon ließ ein Weihegeschenk für Apollon anfertigen, stellte es im Schatzhaus der Athener in Delphi auf und setzte seinen Namen und den des Proxenos darauf, der mit Klearchos gemeinsam den Tod gefunden hatte; er war nämlich sein Gastfreund gewesen. Den Teil für die Artemis von Ephesos ließ er bei Megabyzos, dem Tempelwächter der Artemis, zurück, als er mit Agesilaos gegen die Boiotier zog, weil er ahnte, dass er Gefahren entgegengehe. Er trug ihm auf, falls er heil davonkomme, solle er ihm das Geld zurückgeben, wenn ihm aber etwas zustoße, für die Artemis ein Weihegeschenk anfertigen lassen, das seiner Meinung nach der Göttin gefallen werde." (22)

Also: was der Artemis von seiten Xenophons zusteht, steht ihr zu, ganz gleich, ob er weitere Fährnisse überlebt oder nicht, und er sorgt dafür, dass das, was zu geschehen hat, auch geschieht, ob er noch lebt oder nicht. Er überlebt und kann daher selbst der Artemis bei Olympia ein Heiligtum errichten, auf das er, seiner begeisterten Beschreibung desselben zufolge, sehr stolz ist. Er gibt genau an, wo es sich befindet, damit sein Publikum es besuchen kann, schildert die dort zu Ehren der Göttin stattfindenden Feste und gibt eine Inschrift an, die er anbringen ließ: "Heilig ist dieser Bezirk der Artemis. Der Besitzer und Nutznießer hat alljährlich den Zehnten zu opfern und von dem Übrigen den Tempel zu erhalten. Tut einer das nicht, so wird die Göttin dafür Sorge tragen." (23)

Was die Weissagung angeht, so erfahren wir, dass der ursprüngliche oberste Anführer der Hellenen, der verbannte Lakedaimonier Klearchos, selbst sein eigener Zeichendeuter war. Er ließ sogar nach dem Tod des Kyros die Abgesandten des Großkönigs, welche die Hellenen aufforderten, ihre Waffen auszuliefern, einfach stehen, um die Zeichen zu besehen, als seine Helfer ihm mitteilten, es sei soweit (24). Dieses Verhalten kann aber auch damit zusammenhängen, dass er Lakedaimonier (25) war und als solcher demonstrierte, dass er sich von nichts und niemandem einschüchtern ließ.

Träume als Vorzeichen und Opfer zur Zeichenschau und als Dank für glücklich bestandene Fährnisse begleiten den ganzen Weg (26). Es geht nicht darum, die Götter dazu zu bewegen, bestimmte Dinge geschehen zu lassen, denn das können sie, wie wir gesehen haben, strenggenommen gar nicht. Zweierlei aber können sie sehr wohl, nämlich erstens ihre bessere Übersicht über das Gefüge der Welt nutzen, um Zeichen zu senden, und zweitens ihre Kräfte denen der Menschen hinzufügen, indem sie ihnen zugunsten eingreifen. Das Opfer ist ein Mittel der Kommunikation, und zwar der beiderseitigen Kommunikation. Trotz des offensichtlichen Machtgefälles sehen wir hellenische Gottheiten und hellenische Menschen als verschiedenartige Partner bei permanentem Austausch, nicht Souveräne im Umgang mit ihren Untertanen.

Wohlgemerkt, ich behaupte keine unmodifizierte Kontinuität der homerischen Kosmologie. Das wäre angesichts sowohl der völlig anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten in der Zeit des Xenophon (27) als auch angesichts der Verschiedenheit der Sujets unsinnig: Homer besang die Taten der Heroen und vielfach ihren Untergang, nicht etwa seine eigene Zeitgeschichte. Sein Publikum kannte diese Gestalten und auch die Taten der in der Ilias oft genannten Väter sehr genau, die auf der Argo gefahren oder den kalydonischen Eber gejagt hatten. Es wäre ein Thema für sich, zu erzählen, wie es im Einzelnen dazu kam, dass sich die Söhne von Männern, die Freunde gewesen waren, vor Troia gegenseitig umbrachten - es würde ermöglichen, Vorstellungen über Konflikte und deren Ursachen zu diskutieren, was auch im Hinblick auf die Kosmologie sehr ertragreich wäre, aber das führt, wie vieles andere, hier zu weit. Wichtig für uns ist, dass die Heroen den Zeitgenossen Xenophons in verschiedener Hinsicht gegenwärtig waren: sie waren Stammväter von Geschlechtern, Gründer von Städten, ihre Grabstätten waren Heiligtümer, ihnen wurde geopfert und sie wurden als Helfer angerufen.

Was Xenophon betrifft, so ist gerade seine Intention, sich selbst als zentrale Figur der "Anabasis" zu präsentieren, für uns sehr nützlich, denn er muss sich schließlich so präsentieren, dass sein Publikum ihm glaubt, es ihn lobt und ihn nicht etwa für einen Aufschneider hält. Man unterschätze nicht die Fähigkeit seiner Zeitgenossen, seine Intention zu erkennen, was allein schon belegt, dass sein Unterfangen ihm nicht von vornherein abträglich gewesen sein kann. Er hat die von Zeus gesandten Träume, der Söldner niest, während er spricht und zum Kampf rät, er hat die entscheidenden Ideen. Entsprechend muss seine Schilderung seiner selbst bezüglich der Ehrung der Götter auch die eines Vortrefflichen gewesen sein.

Der Mann, der mahnte

Ich möchte, um das Bild etwas abzurunden, noch kurz auf Thukydides zu sprechen kommen. Sein Unterfangen war ein vollkommen anderes als das des Xenophon. "Zum bloßen Anhören", schrieb er, "wird vielleicht durch das Fehlen des erzählerischen Elements meine Darstellung weniger erfreulich erscheinen. Wer aber klare Erkenntnis des Vergangen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben." (28) Diesem seinem Anspruch wurde er durchaus gerecht. Er untersuchte sehr sorgfältig sowohl die Ursachen (29) des Peloponnesischen Krieges als auch seinen Verlauf und arbeitete dabei transparent und nachvollziehbar Kausalketten heraus, die, wie er hier und da bemerkt, seinen Zeitgenossen völlig entgingen. Aus der heutigen Perspektive ist sein Unterfangen gewissermaßen ein interdisziplinäres, denn er befasste sich nicht nur mit historischer und politischer Analyse, sondern auch mit dem, was er die "menschliche Natur" nannte und drang hin und wieder in Bereiche vor, die man kosmologisch nennen muss. Es ist beispielsweise faszinierend, zu beobachten, wie und wann er den Begriff tyche verwendet, der am häufigsten mit "Zufall" übersetzt wird - es drängt sich aber der Verdacht auf, dass er keineswegs das meinte, was man heutzutage unter "Zufall" versteht.

Ich muss mich hier leider auf den Hinweis beschränken, dass es eine solche Quelle gibt und kann die kosmologischen Aussagen hier nicht herausarbeiten. Wie ich an verschiedenen Stellen angemerkt habe, kann ich hier nur die eigentlich zu leistende Arbeit nur umreißen und sie nicht hier und jetzt selbst tun.


Fußnoten:

(1)Herodot, III 38

(2)Herodot, II 63

(3)MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Frankfurt am Main 1995, S. 170

(4)Homer, Ilias, I 43 ff.

(5)ebd., I 9

(6)ebd., VIII 69 ff.

(7)MacIntyre, Der Verlust der Tugend, S.169

(8)ebd.; S.170

(9)ebd., S.169

(10)"Nur diejenigen die die Position der Herrschenden einnehmen, sind selbstidentisch, unmarkiert, entkörpert, unvermittelt, transzendent und wiedergeboren. Bedauerlicherweise können Unterworfene diese Subjektposition begehren und sogar zu ihr aufsteigen" um dann außer Sicht zu geraten. Wissen vom Standpunkt des Unmarkierten ist wahrhaft phantastisch, verzerrt, und deshalb irrational. Die einzige Position, von der aus Objektivität unmöglich praktiziert und gewürdigt werden kann, ist der Standpunkt des Herrn, des Mannes, des Einen Gottes, dessen Auge alle Differenz produziert, aneignet und lenkt. Niemand hat den monotheistischen Gott je der Objektivität beschuldigt, allenfalls der Indifferenz. Der göttliche Trick ist selbstidentisch, und wir haben dies fälschlicherweise für Kreativität und Wissen, sogar für Allwissenheit gehalten.“ Donna Haraway: Situiertes Wissen. In: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main 1995, S. 87

(11)Homer, Ilias, V 1ff.

(12)Island, um das 13. Jahrhundert. Der realistische Stil der Sagas führte dazu, dass sie lange Zeit nicht als literarische Werke, sondern quasi als Tatsachen berichte galten. Der christlich-tendenziöse Charakter der meisten Sagas ist aber offensichtlich, weswegen man vorsichtig sein muss, von ihnen auf tatsächliche Verhältnisse im heidnischen Island zu schließen.

(13)ebd., V 87

(14)ebd,. V 115 ff.

(15)ebd., V 335 ff.

(16)ebd., V 406 ff.

(17)ebd., V 432 ff.

(18)ebd., V 815 ff.

(19)Xenophon, Anabasis III 2

(20)ebd., III 1

(21)ebd., IV 8

(22)ebd., V 3

(23)ebd., V 3

(24)ebd., II 7

(25)Landläufig: Spartaner. Xenophon gehörte zu denjenigen Athenern, die die Lakedaimonier offen bewunderten. Allgemein galten sie als schwerfällig, misstrauisch, altmodisch, in absurder Weise stolz auf ihre Bedürfnislosigkeit und Armut, aber auch als unglaublich harte Kämpfer. Es sind sehr viele ihrer „lakonischen“ Aussprüche überliefert, zum Beispiel die Antwort eines Lakedaimoniers auf die Aussage, die Korinther wären reich, weil sie den Seehandel für Sparta betrieben: „Das ist ihr Problem.“ Die Spartanerinnen genossen im Gegensatz zu den anderen Helleninnen eine viel bessere gesellschaftliche Position, Reisende aus anderen hellenischen Regionen waren schockiert über die nackt trainierenden Athletinnen. In der modernen Publizistik kommen die Lakedaimonier in der Regel sehr schlecht weg, man entrüstet sich heftig über ihre Unterdrückung beispielsweise der Messenier, erwähnt aber die Massaker der Athener an rebellierenden „Verbündeten“ während des Peloponnesischen Krieges nie. Die von Thukydides eingehend analysierte athenische Machtakkumulation ist anscheinend der christlich-abendländischen allzu ähnlich und die Verachtung der Lakedaimonier für erpresserische ökonomische Machtausübung sowie ihr sehr erfolgreiches Dagegenhalten scheint eine Dämonisierung geradezu zu erfordern. Die zeitgenössischen Autoren jedoch erwiesen ihnen Respekt, obwohl sie genau wussten, dass es den Lakedaimoniern völlig gleich war, was andere über sie dachten

(26)ein ausführliches Beispiel in IV 3

(27)MacIntyre, Der Verlust der Tugend, S.177 ff.

(28)Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, I 22

(29)ebd., I 88 ff.

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