Rabenclan

Verein zur Weiterentwicklung heidnischer Traditionen e.V.

Magazin
Hans Schuhmacher Wicca 02
28.04.2017, 09:55

Startseite
Wir über uns
Kontakt
Mitglied werden
Pressestelle
Heidentum
Magazin

Aktuelles
Forum
Joculatorium
Links

Bearbeiten
Suchen



© Copyright 2003-2024 rabenclan.de

Das Internet-Magazin des Rabenclans

Meinungen und Äußerungen der Magazin-Artikel sind, soweit nicht im Artikel selbst anderweitig gekennzeichnet, keine Verlautbarungen des Vereins und liegen somit ausschließlich in der Verantwortung der Autoren.

<< | Liste Nach Autoren | >>

Zwei Widersprüche

von Hans Schuhmacher im Auftrag des Ariosophieprojektes des Rabenclan, Arbeitskreis für Heiden in Deutschland, e.V.(alle Rechte vorbehalten).

Voraus

In "Wicca- das trojanische Pferd der Theosophie" haben wir uns einen ersten Überblick über das Phänomen Wicca im Zusammenhang mit unserem Thema verschafft. Hier sollen nun einige offen gebliebene Fragen behandelt und einige Perspektiven erweitert werden, insbesondere bezüglich des merkwürdigen Widerspruchs zwischen dem emanzipatorisch-feministisch-ökologischen Anspruch der Wicca-Bewegung einerseits und dem offenbar theosophisch - rassistischen Kern und seinen strukturellen und inhaltlichen Auswüchsen andererseits. Es sei gleich hier gesagt, daß auch dieses Teilstück der Untersuchung das Thema Wicca keineswegs abschließen wird, jedoch möglicherweise Aspekte aufwirft, die sich für die Gesamtuntersuchung als hilfreich erweisen werden. Dies wird insbesondere darum der Fall sein, weil zur Auflösung des oben kurz charakterisierten Widerspruchs eine Erweiterung der theoretischen Basis vorgenommen werden muß.

1. Einleitung

Daß das Verhältnis zwischen Theosophie, Ariosophie und anderen autoritär-rassistischen Lehren einerseits und Naturreligion andererseits ein antagonistisches ist, haben wir in "Anmerkungen zum Thema Mythos" bereits festgestellt, ebenso wie die gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen Inhalt und Struktur. In der Folge haben wir diese Thematik weitergehend behandelt und können nunmehr klar und deutlich einen Widerspruch aufzeigen: die meisten Mitglieder der Heidenszene, wie auch die meisten Wicca, sind zwar der Ansicht, Naturreligion zu praktizieren, folgen jedoch Lehren und lassen sich in Strukturen integrieren, die das genaue Gegenteil dessen sind, was sie zu sein behaupten. Auch daß diese Problematik bezogen auf Mitglieder von Gruppen und periphere Mitläufer ganz anders zu gewichten und zu betrachten ist als bezogen auf Hohepriester, Oberste Eingeweihte, Führer, Leiter und andere mit Richtlinienkompetenz und somit Macht ausgestattete "Lichtgestalten", haben wir bereits gesehen. Es sei hier in Erinnerung gerufen, daß in der Heidenszene regelrechte Herrschaftsverhältnisse vorliegen: die Mitglieder sind den Strukturen in vielschichtiger Weise unterworfen, die Führer nutzen und manipulieren die Strukturen nach rein persönlichem Gutdünken. Doch ohne den Anspruch, "authentische" Naturreligion zum Inhalt zu haben, würde diese gesamte Macht- und Weltanschauungsmaschinerie nicht funktionieren, da sich kaum jemand dazu einladen ließe, um den Preis der persönlichen Unterwerfung in rassistische Wahnsysteme eingeweiht zu werden. Der Widerspruch ist also nicht peripher, sondern fundamental und grundlegend.

Wir haben es jedoch noch mit einem weiteren Widerspruch zu tun, der bei dem Phänomen Wicca klarer als irgendwo sonst zu Tage tritt: nicht nur die in "Wicca: das trojanische Pferd der Theosophie" kurz charakterisierten kritischen Wicca sind in der Regel feministisch, sozial und ökologisch zumindest interessiert, häufig auch engagiert, sondern auch viele der in den ebenfalls dort charakterisierten Covenstrukturen eingebundenen, eher traditionellen Wicca. Dies ist zwar in Deutschland bei weitem weniger der Fall als beispielsweise in Großbritannien oder den USA, was an den spezifisch deutschen Heidenszenen-Verhältnissen liegt, die ja vorrangig unser Thema sind, aber generell ist gerade dieses Engagement ein Charakteristikum des modernen Wicca. Andererseits haben wir bereits auf das Vorhandensein theosophischer und somit rassistischer Lehren und autoritärer Strukturen hingewiesen, was im klaren Widerspruch zu diesem Engagement steht, das eindeutig auch Selbstverständnis widerspiegelt.

Auf den ersten Blick scheint sich dieser Widerspruch nicht von dem oben charakterisierten zu unterscheiden, es scheint, als liege nur ein und derselbe Widerspruch vor. Ein Blick auf die Praxis läßt den Unterschied zwischen den Widersprüchen jedoch erkennen. Der erste Widerspruch ist, wie gesagt, ein fundamentaler und systemimmanenter: Naturreligion und Rassismus bzw. autoritäre Weltanschauungen werden, obwohl unvereinbar, miteinander identifiziert. Der zweite Widerspruch liegt im Bereich des Selbstverständnisses derer, die den jeweiligen Lehren jenseits der reinen Ariosophie anhängen: faktisch sind sie Träger gefährlicher Ideologien, sie begreifen sich jedoch als fortschrittlich, als emanzipatorisch, als konstruktive Gesellschaftskritiker. Wenn beispielsweise der Armanenorden sich als naturreligiös bezeichnet und seine zweifelsfrei rassistischen Lehren in der Öffentlichkeit leugnet, so liegt eindeutig ein Täuschungsmanöver vor. Wenn allerdings Mitglieder eines Wicca-Covens sich in positiver Weise gesellschaftlich engagieren, so ist dies keineswegs eindeutig ein Täuschungsmanöver, es ist im Gegenteil recht wahrscheinlich, daß diese Covenmitglieder der Auffassung sind, im vollen Einklang mit ihrer Religion zu handeln. Eben diese Wicca sind es, die empört und in höchstem Maße defensiv reagieren, weist man sie auf die im vorangegangene Artikel herausgestellte Problematik hin: sie sehen sich keineswegs als Wegbereiter von Rassismus. Auch den Widerspruch zwischen ihrem Selbstverständnis und dem theosophisch-rassistischen Kern ihrer Lehre sehen sie nicht, da sie diesen Kern nicht erkennen. Hier muß unsere Arbeit ansetzen.

Der zweite Widerspruch beruht offensichtlich auf dem ersten und existiert in stark abgeschwächter Form auch in den Teilen der Heidenszene, die nicht Wicca praktizieren. Ihn, den zweiten Widerspruch, zu sehen und ihm Beachtung zu schenken, bedeutet, sich auf ein extrem problematisches und arbeitsreiches Feld zu begeben, denn hier geht es um Einzelüberzeugungen, die sich niemals zur Gänze nachweisen lassen. Es kann selbstverständlich nicht angehen, die Behauptungen irgendwelcher Individuen, sie verstünden sich nicht als Rassisten, als tatsächliche Distanz zum Rassismus anzuerkennen - gerade die vorangegangenen Untersuchungen haben dies eindeutig gezeigt. Andererseits sollte man sich hüten, voreilig zu urteilen, wenn es darum geht, Wahrheiten herauszuarbeiten, denn nur Wahrheiten taugen zur Verwirklichung unseres Vorhabens.

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, kurz auf den Stand der öffentlichen Diskussion hinzuweisen. Diese ist, abgesehen von der Arbeit von Antje Schrupp(1), auf die hier schon Bezug genommen wurde, immer noch gänzlich den Personalverflechtungstheorien verpflichtet, Heidentum und rassistische Ideologien werden immer noch als ein und dasselbe behandelt, die analytische Leistung ist gleich Null. Angesichts dessen verwundert es nicht weiter, daß die mittlerweile mehrjährige heftige Auseinandersetzung, zu welcher dieses Ariosophieprojekt gehört, gänzlich ignoriert wird. Beispielhaft ist "Wotans Jünger(2)" von Franziska Hundseder, das an all diesen Mängeln in eklatanter Weise krankt, dafür aber immerhin eine große Fülle an teils höchst brisanter Information liefert und daher im Rahmen dieses Projekts noch Verwendung finden wird. Die Art und Weise jedoch, auf welcher diese Information präsentiert wird, insinuiert besonders dem der Thematik unkundigen Leser, Heidentum bzw. Naturreligion sei auschließlich und von vornherein nichts anderes als eine großangelegte faschistische Verschwörung. Der Werdegang einer "Arminne" sei aus dem auch ansonsten recht aufschlußreichen Kapitel über den Armanenorden kurz zitiert: "Sie besuchte ein Seminar der kalifornischen Hexe Starhawk in Todtmoos-Rütte, wandelte auf den Spuren von König Artus in Cornwall und veranstaltete selber (sic) Seminare über die Heilkraft der Edelsteine. Beim "Fest der tausend Frauen" in der Alten Oper in Frankfurt wurde ihre Adresse an Armanen weitergegeben, und so bekam sie nach ihrer eigenen Darstellung die erste Einladung zu einem Thing. Nach einigen Seminaren bei "Frau Sigrun" (Sigrun von Schlichting) erhielt sie 1991 an den Externsteinen die Weihe als Armanenpriesterin...(3)" Genau diese Werdegänge sind es, die symptomatisch sind für die Probleme, die wir in diesem Projekt und diesem Text behandeln, in Frau Hundseders Buch jedoch werden keinerlei Fragen aufgeworfen, es wird lediglich mit dem Finger gezeigt.

Ganz am Anfang des Buches(4) informiert uns Frau Hundseder anderthalb Seiten lang darüber, wie es in Arnulf Priems Wohnung aussah, darüber, daß er spät aufstand sowie darüber, daß er Putenkeule frühstückte und schließlich darüber, wie er sein Haar trug und sich kleidete und mit wem er zusammenlebte. Es sei hier ein für allemal folgendes festgestellt: bei dieser von uns behandelten Thematik geht es primär um Inhalte, es geht um Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und gesellschaftliche Konsequenzen. Stünde der Ariosoph Priem früh auf, trüge kurze Haare und frühstückte er konventioneller, wären die von ihm vertretenen Inhalte nach wie vor ariosophisch. Verträte er gutzuheißende Inhalte, würden diese nicht um ein Jota an Wert verlieren, weil er spät aufsteht, lange Haare trägt und Putenkeule frühstückt. Das sollte selbstverständlich sein, wäre es das aber, gäbe es für Frau Hundseder keine Veranlassung, ihr Buch derart einzuleiten. Fingerzeigen ist nicht nur kein Ersatz für Analyse, Fingerzeigen ist in höchstem Maße kontraproduktiv: es lenkt die Aufmerksamkeit auf Nebensächlichkeiten und lädt zur gutbürgerlichen Selbstgerechtigkeit geradezu ein. Zu dieser besteht jedoch keinerlei realer Anlaß, auch und gerade in Sachen Rassismus nicht.

Derlei Publikationen sind für die konkrete Arbeit an unserer Problematik wenig hilfreich. Zurück zum Beispiel der "Arminne": sie ist ganz offensichtlich ein Opfer des ersten Widerspruchs und war möglicherweise ein Opfer des zweiten. In diesem Artikel wollen wir der Entstehung der durch diese Widersprüche geprägten Situation sowie den ihr zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten auf den Grund gehen.

2. Religion als Kulturkritik

2.1. Allgemeine Überlegungen

Die Tatsache, daß wir es bei unserer Problematik nicht lediglich mit Weltanschauungen und Ideologien zu tun haben, sondern explizit mit Phänomenen im Bereich der Religion, wurde bislang vernachlässigt, und zwar sowohl im Rahmen dieses Projekts als auch in der öffentlichen Diskussion. Da heutzutage vielerorts gar nicht mehr gesehen wird, daß es zwischen Ideologie und Weltanschauung einerseits und Religion andererseits überhaupt einen Unterschied gibt, bedarf der neue Komplex unserer Untersuchung der Erläuterung.

Sowohl die Heidenszene als auch die Wicca-Bewegung, sofern sie nicht mit dieser identisch ist, verstehen sich als religiös und nicht lediglich als ideologische Szene. Theosophie und Ariosophie sind Versuche, rassistische Thesen quasi zu kosmischen Dimensionen aufzublasen, womit sie sich eindeutig in die religiöse Dimension vorgewagt haben: ein Vorhaben, das an und für sich lächerlich erscheint, aber nichtsdestotrotz mit durchschlagendem Erfolg gekrönt wurde - unsere bisherigen Erörterungen sind hierfür ein hinlänglicher Beweis, und wir haben noch lange nicht alle Seitenzweige der Theosophie auch nur erwähnt. Es ist fraglich, ob die Grundlagen dieses Erfolges zu ermitteln sind, wenn man die religiös-kosmologische Ebene ignoriert. Bekommt man aber die Grundlagen nicht in den Griff, entgehen ganze kausale Komplexe sowohl der Beobachtung als auch der Bekämpfung.

Die Untersuchung der Inhalte über die rein ideologische Ebene hinaus in die religiöse hineinzuverlagern, wirft jedoch erhebliche Probleme auf. Offensichtlich besteht zwischen Ideologie und Religion eine weit ausgedehnte Grauzone, und es wird im Einzelfall sehr schwer sein, eine eindeutige Zuweisung vorzunehmen. Dieses Problem fällt allerdings weg, wenn man Religion lediglich als mehr oder weniger irrationales Anhängsel von Weltanschauung begreift und auschließlich funktionale Elemente ausfindig machen will, was zwar über Personalverflechtungstheorien und Fingerzeigen bereits weit hinausgeht, aber eine recht offensichtliche Schwierigkeit aufwirft: wie will man die Wirkung von etwas genau bestimmen, das man nicht untersucht?

Die Humanwissenschaften tun sich mit dem Thema "Religion" nach wie vor recht schwer, und zwar aufgrund der großen Komplexität der Thematik: es gibt einen fortlaufenden Diskurs über Definitionsprobleme und Betrachtungsweisen, was allein schon deutlich macht, daß man sich auch im Rahmen unserer Thematik vor Schlußfolgerungen unter Vernachlässigung dieser Ebene des Problems hüten sollte.

Vivelo definiert Religion im "Handbuch der Kulturanthropologie" nach kurzer Erörterung des Definitionsdiskurses schließlich folgendermaßen: "Ich werde daher der Tradition folgen und Religion gebrauchen, um mich auf den Umgang der Menschen mit dem Übernatürlichen zu beziehen (wie auch immer das Übernatürliche - d.h. das jenseits der natürlichen, materiellen, sichtbaren Welt menschlicher Wesen liegende - in irgendeiner Kultur bestimmt sein möge).(5)" Er räumt allerdings selbst den Ethnozentrismus seiner Definition ein, da der Begriff des "Übernatürlichen" nicht mit dem Bild einer alles (und eben auch das "Übernatürliche") integrierenden Natur vereinbar ist, wie man es insbesondere bei schriftlosen Völkern vorfindet (und wie es auch in jeder echten Naturreligion Grundlage sein muß, Anm. von mir(6)). Die Verzerrung, die dadurch geschieht, daß man einen Teil von einem in sich zusammenhängenden System abtrennt, sei hinzunehmen, solange man sich ihrer bewußt bleibt.(7) Da wir zunächst einmal eine Definition brauchen, mit der wir arbeiten können, werden wir hier Vivelo vorläufig folgen, das "Übernatürliche" jedoch stets in Anführungszeichen setzen und uns erinnern, warum wir das tun.

Ebensowenig wie dem Definitionsdiskurs können wir hier der Diskussion der Betrachtungsweisen großen Raum widmen, zumal hier ein Diskurs dieser Größenordnung nicht geführt werden kann. Wir wollen uns daher auf einige grundsätzliche Bemerkungen beschränken, die notwendig sind, um die Zielrichtung unserer Arbeit an der religiösen Dimension unserer Thematik klarzumachen. Da wir uns im Rahmen des Ariosophieprojekts mit Rassismus in - vermeintlich - heidnischen Religionen befassen, ist für uns die soziologische Betrachtungsweise die naheliegendste, da sie sich auf Übereinstimmungen zwischen religiösen Aussagen und politisch-gesellschaftlicher Realität konzentriert. Auch hier wollen wir Vivelo kurz zitieren:

"Einer der einflußreichsten modernen Vertreter dieser Art von Religionstheorie war Emile Durkheim. In seinem Buch Les formes élementaires de la vie religieuse (1912) vertrat er die Ansicht, daß sich in Form einer Religion eine Gesellschaft in Wirklichkeit selbst Altäre errichtet und sich selbst verehrt; letzten Endes ist die Gesellschaft die Gottheit. Die Menschen richten ein Symbol oder Totem auf, welches die Gruppe - d.h. ihre soziale Identität - repräsentiert, und die Verehrung dieses Totems ist dann eine Anerkennung der Autorität der Gruppe sowie der Notwendigkeit sozialer Einheit. Durch die Religion erkennen die Menschen die Legitimität der sozialen und moralischen Ordnung an und helfen dadurch, sie aufrechtzuerhalten...

"Alle Betrachtungsweisen, die die Religion in ihrer Beziehung zur Sozialordnung zum Gegenstand haben, gehen von vergleichbaren Grundannahmen aus. Genauer gesagt, sie sehen die Religion unter einem doppelten Aspekt:

"Die Religion spiegelt oder verdoppelt die Sozialordnung: d.h. also, daß die Form, die eine Religion in irgendeiner Gesellschaft annimmt, in Einklang mit deren Sozialstruktur stehen wird - der Art und Weise, wie die Menschen ihren Lebensunterhalt gewinnen, ihre Arbeit organisieren, für die Willensbildung und die Ausübung von Autorität sorgen, usw.

"Die Religion dient dazu, diese Sozialordnung zu bestätigen, zu bekräftigen und als die richtige Lebensweise zu legitimieren; und dies hilft bei der Regelung sozialer Tätigkeiten und trägt zur Aufrechterhaltung der sozialen Kontrolle bei.(8)"

Diesen Blickwinkel haben wir auch bisher eingenommen und auf die uns interessierenden Gruppierungen und Inhalte angewandt. Hervorzuheben ist bei unserer Thematik jedoch, daß aufgrund des Umstands, daß die Lehren der Heidenszene nicht die Religion der Gesamtgesellschaft sind, wiederum eine Verdoppelung auftritt: einerseits erhalten, stärken und letzten Endes verehren die jeweiligen Gruppen mittels ihrer religiösen Praxis sich selbst, sowohl was ihre Identität als auch was ihre Struktur angeht, die sie in ihren Lehren als kosmische Ordnung wiederfinden - andererseits nehmen sie, ob ihnen das nun bewußt ist oder nicht, die von ihnen angestrebte Gesellschaftsordnung hierdurch voraus, in allen Fällen eine antidemokratische, hierarchische und rassistische: die Theokratie, wie wir sie in ihrer reinsten Ausführung beim Armanenorden finden(9). Hier liegt die eigentliche Brisanz unseres Themas: es werden eben nicht nur rassistische Thesen verbreitet, sondern die rassistische, autoritäre Weltordnung wird religiös vorweggenommen und damit vorbereitet.

Betrachtet man Religion lediglich unter dem oben skizzierten Blickwinkel, so kommt man zu dem Schluß, daß man es bei der Heidenszene nur mit merkwürdigen Außenseitergruppierungen zu tun hat, bei denen oben kurz erläuterte Gesetzmäßigkeiten zwar zum Tragen kommen, da sie sich immer auswirken, sobald Religion im Spiel ist, die Kleinheit der Gruppen und eben die Außenseiterposition aber die Ausstrahlungs- und Akkumulationskraft von vornherein in engen Grenzen halten. Das wäre in gewisser Hinsicht beruhigend, und man müßte lediglich die immense Verbreitung theosophischen Gedankenguts zum Beispiel durch die New-Age-Esoteriker im Auge behalten. Man gelangt allerdings zu gänzlich anderen Schlüssen, wenn man davon ausgeht, daß das Aufreten religiöser Erneuerungsbewegungen selbst Gesetzmäßigkeiten unterliegt, was die Heidenszene zu einem Symptom einer allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung macht. Religiöse Bewegungen entstehen, ebenso wie alles andere, weder aus dem Nichts noch ohne Grund.

Die Anthropologin Mary Douglas hat in ihrem Werk "Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur(10)" religiöse Erneuerungsbewegungen vielfach zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen gemacht. Wir werden im Folgenden auf diese Arbeit mehrfach Bezug nehmen.

Es sei an dieser Stelle kurz angemerkt, daß wir auf Dauer die rein soziologische Betrachtungsweise der Religion werden ausweiten müssen. Insbesondere die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss(11), wie insgesamt die kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Religion(12), legen dar, daß der Religion bzw. den Religionen selbst Eigengesetzlichkeiten innewohnen, die weit über Entsprechungsverhältnisse zur jeweiligen Gesellschaft hinausgehen. Da sich einige diese Gesetze auf unser Thema auswirken können, insbesondere was Entstehung, Tradierung, Interpretation und Veränderung von Mythen angeht, werden wir dieser Thematik zukünftig Aufmerksamkeit widmen.

2.2.Exkurs: Gesellschaft, Weltanschauung und Religion

Die soziologische Betrachtungsweise von Religion legt nahe, daß religiöse Erscheinungen insgesamt in engster Ergänzung und Entsprechung zu gesellschaftlichen Realitäten stehen, neue Religionen entstehen demzufolge dann, wenn die gesellschaftliche Realität es in diesem Sinne erfordert. Die neue Religion - oder die Neuinterpretation der alten Religion, vgl. Ketzerbewegungen und Reformation - befindet sich ebenfalls in engstem Bezug zur Gesellschaft, hat aber ein anderes Verhältnis zu ihr, oft, wenn auch nicht immer auf dieselbe Weise (wir werden dies hier noch besprechen) ein kulturkritisches. Unterstellt man - denn bewiesen werden kann es hier nicht - ein quasi-seismographisches Reagieren von Menschen auf Veränderung gesellschaftlicher Realitäten, so finden neue Religionen Anhänger, wenn spezifische gesellschaftliche Vorgänge von einer gewissen Anzahl von Menschen gleichermaßen empfunden werden. Dieser Vorgang, nicht das Postulieren von Lehren, ist der entscheidende: finden sich für einen potentiellen Propheten, oder wie auch immer das Individuum bezeichnet werden möge, keine Gläubigen, so bleibt seine Lehre ein Privatsystem und wird von der Gesellschaft als Wahnsystem angesehen, so sie von ihm Kenntnis erhält. Der hier naheliegende Schluß, daß nämlich letztendlich die Anzahl der Anhänger Religionen von Wahnsystemen unterscheidet, ginge aber denn doch zu weit: ob sich Anhänger finden oder nicht, hängt, wie gesagt, von Gesetzmäßigkeiten ab.

Es ist also aus der soziologischen Perspektive bezüglich neu auftretender Religionen und Weltanschauungen für deren Überleben und den Grad ihrer Ausbreitung die Frage, ob gesellschaftlicher Bedarf nach gerade dieser Religion oder Weltanschauung besteht. So sind beispielsweise Guido "von" Lists Aussagen und Herleitungen, bezogen auf das reale germanische Altertum sowie seine hiervon abgeleiteten Extrapolationen inhaltlich eindeutig ein Wahnsystem und in der Sache derart lächerlich, daß der im Vergleich zu heute mangelhafte Forschungsstand ein Akzeptieren dieser Aussagen und Herleitungen zu Lists Lebzeiten nicht hinreichend erklärt, er fand jedoch durchaus Anhänger, und zwar auffallend viele gebildete. Zudem haben bekanntermaßen seine Lehren auch heute noch Anhänger und waren ein wesentlicher Bestandteil der Ideologie des Dritten Reichs. Sein Wahnsystem fand sozusagen ein gesellschaftliches Gelegenheitsfenster. Wir können die spezifische Ariosophie des Dritten Reiches, wie die Ariosophie überhaupt, inhaltlich als inhumanes Wahnsystem bezeichnen, es ist jedoch höchst bedeutsam, daß sie während der Dauer des Dritten Reiches in Deutschland keineswegs als Wahnsystem begriffen wurde. Die Tatsache, daß ein System inhaltlich ein Wahnsystem ist, bedeutet nicht, daß es nicht geschehen kann, daß es gesamtgesellschaftlich für wahr genommen wird.

Ein weiteres Beispiel:die im obigen Abschnitt erwähnte Grauzone zwischen Religion und Ideologie ist in der westlichen Welt derzeit das Feld, auf welchem sich die in Hollywood erzeugten mythologischen und epischen Gestalten samt der von ihnen transportierten Wertesysteme, Kausalitätsmodelle, Paradigmen, insgesamt also unterschwelligen Grundaussagen über die Realität, breitmachen. In zunehmendem Maße sind es diese, die auf die Realitätswahrnehmung und demzufolge auf die Denk- und Handlungsmuster aller ihnen ausgesetzten Populationen abfärben, ein Prozeß, dessen Gefährlichkeit nicht untertrieben werden kann. Es kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, daß die Film- und Serienfiguren samt ihrem Kontext im Sinne des derzeitig gültigen Realitätsbildes nicht real sind. Es zeigt sich also wiederum, daß das Zustandekommen gesellschaftlicher "Wahrheiten" in der modernen westlichen Welt keineswegs hauptsächlich aufklärerisch-rationalen Prozessen zu danken ist.

Andererseits gibt es Gesetzmäßigkeiten, die bestimmte Gesellschaftstypen und bestimmte Weltanschauungs- und Glaubenssysteme miteinander in Korrelation bringen. "Wenn wir nun aber tatsächlich mit unbeschränkter Allgemeinheit behaupten dürfen", schreibt Mary Douglas," daß ... Weltauffassungen bestimmten Sozialstrukturen zuzuordnen sind, liegt auf der Hand, daß eine Revision unserer Ideengeschichte fällig ist, daß kein Historiker mehr so schreiben dürfte, als ob Philosophien und Weltauffassungen autonome Gebilde wären, die in einem sozialen Vakuum schweben, während ihre Ideen aufeinanderstoßen, sich aufspalten, wachsen, verfallen oder von anderen aufgesogen werden.(13)"

Die Gesetzmäßigkeiten betreffend der Korrelation zwischen Gesellschaften bzw. Gesellschaftstypen einerseits und Weltanschauungs- und Glaubensmodellen andererseits sind ein Kernstück von Mary Douglas´oben zitierter Arbeit. Leider können Ergebnisse und Herleitung hier nicht vorgetragen werden, da eine solche Thematik eine Verkürzung nicht verträgt. Wir werden in der Folge in diesem Projekt immer wieder auf Mary Douglas´Theorien zu sprechen kommen, da sie sich in mancherlei Hinsicht in unserer Thematik als bahnbrechend erweisen. Hier müssen wir uns mit dem größten Bedauern zunächst auf Zitat und Verweis beschränken.

Bezogen auf unsere Untersuchung zeigt sich, daß wir nunmehr die gesamte Problematik um Theosophie, Ariosophie und ihre Ableger in diesen Zusammenhängen sehen müssen. Es sind nämlich offenbar nicht mentale oder moralische Defizite ihrer Anhänger, die sie am Leben erhalten, wenn auch gesellschaftliche Gegebenheiten den Einzelnen keineswegs aus der Verantwortung nehmen. Der gesamte Prozeß des Vordringens von Rassismus in die religiöse Sphäre zeigt unter diesen Gesichtspunkten ein seit der Verbreitung der Theosophie, also seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, bestehendes gesellschaftliches Potential für eine Entwicklung an, die zu Gesellschaftssystemen führt, deren akkurate weltanschauliche und religiöse Entsprechung Theosophie respektive Ariosophie sind. In der öffentlichen Diskussion wird bislang häufig ob der Personalverflechtungen in unserem Untersuchungsbereich - die ja durchaus real existieren - und der Gefahr der weiteren Verbreitung rassistischen Gedankenguts Alarm geschlagen. Sieht man jedoch die Gruppen und Grüppchen nicht so sehr als Gefahrenquelle an, sondern vielmehr als Symptom des eigentlichen Gefahrenpotentials, so hat die Bedrohung eine ganz andere Größenordnung. Sie entstand, als Monarchien noch verbreitet waren und als gesellschaftliche Partizipation seitens von Frauen, Arbeitern und Unprivilegierten lediglich als radikale Forderungen existierten. Die Bedrohung existierte und existiert bis zum heutigen Tag größtenteils unbemerkt, was sie noch gefährlicher macht, sie kann sich in vielfältiger Weise manifestieren, und es ist fraglich, ob der deutsche Faschismus ihr schlimmstes Resultat bleiben wird.

Die Bedrohung zeigt sich auch und insbesondere in den zwei Widersprüchen, zu deren Auflösung wir so weit ausholen müssen. Sobald man nämlich die beruhigende Illusion abschüttelt, man habe es lediglich mit einer Ansammlung böser, dummer oder naiver Menschen zu tun, die merkwürdige Kulte praktizieren und quasi nebenbei rassistische Thesen in ihr Gedankengut aufnehmen und weiterverbreiten, wird an den zwei Widersprüchen deutlich, wie die oben skizzierte Bedrohung auch Menschen zu ihren ausführenden Organen machen kann, die im Grunde das Gegenteil tun und sein wollen. Die traditionellen Wicca beispielsweise sind nicht böser, dümmer oder naiver als ihre Zeitgenossen, und einer feministisch-ökologischen Religion anhängen zu wollen ist weder ein moralisches Vergehen noch a priori gewolltes Außenseitertum. Wir werden uns hier mit dem Phänomen religiöser Bewegungen noch eingehender befassen, wobei sich versteht, daß wir in diesem Artikel lediglich den Einstieg in diese größere Thematik vollziehen.

Vorwürfe könnten, und dies vielleicht mit besserem Recht, auch anderen gemacht werden, nämlich etlichen Teilnehmern der öffentlichen Diskussion. Zu den in der Einleitung kurz angesprochenen Mängeln kommt nämlich vielfach der Mangel an Selbstreflektion hinzu. Fände diese nämlich verstärkt statt, würde deutlich, das die bislang etablierte Verfahrensweise in der Tat große Ähnlichkeit mit einer Hexenjagd hat: Frau Hundseder beispielsweise referiert unter der Kapitelüberschrift "Bedrohte Neuheiden?(14)" lediglich Verschwörungstheorien eindeutig rechter Individuen und Organisationen und macht deutlich, daß eine Verfolgung dieser Individuen und Gruppen keineswegs stattfindet. Das ist richtig: verfolgt wurden bislang und werden immer noch Individuen, die in den allermeisten Fällen gar keine Rassisten sind, während sinnvolle Maßnahmen gegen eindeutig faschistische Gruppierungen immer noch auf sich warten lassen. Im ganzen Buch weiß Frau Hundseder es aber zu vermeiden, auch nur die Möglichkeit heidnischer Gegenpositionen zum Rassismus einzuräumen und setzt Heidentum mit rechter Ideologie durchgängig gleich. "Die zwielichtigen geheimbündlerischen Kulte", so der Klappentext, "stellen eine ernsthafte Bedrohung unserer Gesellschaft dar." Somit wäre hinreichend klargemacht, daß "die Neuheiden", und zwar alle, die Bedrohung sind. Hören wir einmal Antje Schrupp zum selben Thema: "Es ist auch der Druck von außen, der die naturreligiösen Individualistinnen und Individualisten zusammenbringt. Die Notwendigkeit, sich deutlich von Satanismus und Rechtsradikalismus abzugrenzen, ist dabei nur eine Seite. Die andere ist das Bemühen, gegen immer noch vorhandene Diskriminierung anzugehen. Im Januar 1996 titelte die "Bild-Zeitung": "Sie hat mich verhext". Die Story handelte von einem Mann, der aus Eifersucht seine Exfreundin und deren neuen Lebensgefährten niederschoß und lebensgefährlich verletzte. Die Frau war naturreligiös und Mitglied des Rabenclans. Die "Bild-Zeitung" zeigte ihr Foto in Großaufnahme, reicherte das Szenario mit Tierblut, Fesselsex und schwarzer Magie an und kommt zu dem Schluß: Die Frau ist selbst schuld. So wird das Opfer eines Mordanschlages zur Täterin erklärt - ein Fall von moderner Hexenjagd.(15)" Hinzuzufügen wäre noch, daß die Herausgeber der Reihe FORUM, in welcher "Die Neuheiden" von Antje Schrupp erschien, über die Evangelische Arbeitsstelle für Religions- und Weltanschauungsfragen respektive über das Referat Weltanschauungsfragen der katholischen Diözese Limburg zu erreichen sind: es liegt nicht etwa eine heidnische Eigenpublikation vor.

Diese doch recht unterschiedliche Umgangsweise mit der Thematik Verfolgung gehört durchaus zu unserem Thema. Es ist keineswegs ein Zufall, daß Antje Schrupps Arbeit in ihrer Differenziertheit bislang allein steht und alle anderen Beiträger eifrig damit beschäftigt sind, klarzumachen, wo das Böse vor sich hin schwärt und wo die Bedrohung der Gesellschaft zu lokalisieren ist, nämlich bei den Außenseitern, wo die "zwielichtigen geheimbündlerischen Kulte" ihr Unwesen treiben. Und noch etwas: die "Bild-Zeitung" schreibt, was ihre Leser lesen wollen. "Das Klassifikationssystem der Gesellschaft", so Mary Douglas, " verwandelt die Welt in ein Arsenal von Kontrollinstrumenten. Jedes Sozialsystem erklärt das Leiden der Menschen auf eine Art und Weise, die die Wirksamkeit der sozialen Kontrollen verstärkt. Und um sehen zu können, wie das Böse in einer bestimmten Gesellschaft verstanden wird, müssen wir untersuchen, wie die Klassifikation und der personale Druck - die Variablen unseres Grundschemas - in ihr ineinandergreifen.(16)"

2.3. Theosophie und Ariosophie in ihrem Entstehungskontext

Angesichts des oben Dargelegten ist es für uns höchst relevant, zu untersuchen, in welchem gesellschaftlichen Kontext Theosophie und Ariosophie entstanden. Theosophie und Ariosophie sind, wie bereits festgestellt wurde, in kosmische Dimensionen projizierte rassistische Thesen. Nach dem oben Gesagten ist klar, daß zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gesellschaftlicher Bedarf nach ihnen bestand, denn sonst hätten sie keine oder doch zu wenige Anhänger gefunden. Die Erörterung von Theosophie und Ariosophie in ihrem Entstehungskontext wird uns dabei helfen, ihre heutige gesellschaftliche Funktion zu verstehen.

Es mag Verwirrung hervorrufen, wenn wir in diesem Projekt, das der Untersuchung und Bekämpfung von Rassismus im zeitgenössischen Heidentum dient, postulieren, es habe jemals gesellschaftlicher Bedarf nach Theosophie und Ariosophie bestanden. Diese Verwirrung entsteht jedoch nur, wenn man die Ebenen der Betrachtung durcheinanderbringt. Betrachtet man die Gesellschaft als ein funktionierendes Ganzes, ein System, so stellt man fest, daß seine primäre Funktion die Selbsterhaltung ist. Die Gesellschaft wird also alles hervorbringen, was ihrer Selbsterhaltung dient, und wird sich gegen alles wenden, was Veränderungen über reine Oberflächlichkeiten hinaus mit sich bringt. Auf dieser Ebene kann sehr wohl Bedarf nach Theosophie und Ariosophie entstehen, denn so betrachtet existieren Weltanschauung und Religion auschließlich zum Zweck der Selbsterhaltung der Gesellschaft. Wenn also eine Gesellschaft, von dieser Ebene aus betrachtet, von sich behauptet, sie existiere zum Wohl "der Menschen", so dient das ihrer Selbsterhaltung, denn wenn die Menschen, die in der Gesellschaft leben, dazu gebracht werden können, diese Behauptung zu glauben, so werden sie sich in die Strukturen einfügen und damit zur Selbsterhaltung der Gesellschaft beitragen. Wenn wir an anderer Stelle gesagt haben, Rassismus, Theosophie und Ariosophie hätten keine Existenzberechtigung, wenn wir oben gesagt haben, sie zeigten eine Bedrohung an, so haben wir aus einer Weltanschauung heraus argumentiert, deren Kern der Respekt vor dem Leben ist. Dies hat mit der funktionalen Betrachtung der Gesellschaft nichts zu tun, und wenn die funktionale Betrachtung der Gesellschaft Unbehagen hervorruft, so liegt das daran, daß die Weltanschauung der Gesellschaft - die ihrer Selbsterhaltung dient - nicht ohne weiteres mit der funktionalen Betrachtung in Einklang zu bringen ist.

Auch bei der Betrachtung von Theosophie und Ariosophie in ihrem Entstehungskontext stoßen wir wieder an die thematischen und durch die Arbeitskapazität bedingten Grenzen des Ariosophieprojekts: eine gründliche Analyse unter hauptsächlicher Berücksichtigung historischer Zusammenhänge kann hier nicht erbracht werden. Eigentlich müßten wir hier ein sehr differenziertes Bild der jeweiligen Gesellschaften in Form einer anthropologischen Studie vorlegen, was zur Tiefenschärfe unserer Untersuchung von Theosophie und Ariosophie entschieden beitrüge. Da ein Ende dieser Arbeit ohnehin nicht abzusehen ist, kann keineswegs ausgeschlossen werden, daß wir zu einem späteren Zeitpunkt auf primär historische Themen schwerpunktmäßig zu sprechen kommen - unser Ausflug auf dieses Feld dient hier lediglich dazu, ein paar vorläufige Grundlagen für die weitere Arbeit zu schaffen, die sich vorerst primär mit aktuellen Fragen beschäftigen muß.

Im Jahre 1875 wurde die Theosophische Gesellschaft als Organisation einer US-amerikanischen spiritistischen Bewegung gegründet, in welcher die Arbeiten der Helena Petrovna Blavatzki (1831-1890) eine zentrale Rolle spielten(17). Wir haben im Rahmen diese Projekts die Wurzelrassenlehre und das Modell der kosmischen Hierarchie, welche die zentralen Thesen der Theosophie sind, im Rahmen unserer Untersuchung bereits sowohl als solche als auch in ihrer Funktion als Kern der Ariosophie besprochen18. Hier wollen wir nun versuchen, aufzuzeigen, warum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA gesellschaftlicher Bedarf nach einer solchen Lehre bestand.

Wenn wir uns primär vom Rassismus als Indikator führen lassen, so fällt zuerst ins Auge, daß zur Zeit um die Gründung der Theosophischen Gesellschaft die staatlichen Verdrängungs- und Ausrottungsmaßnahmen der USA gegen die Ureinwohner zwar ihre Endphase erreicht hatten, aber noch keineswegs abgeschlossen waren. 1861 bis 1865 fand der Krieg gegen die Cheyenne und Arapaho statt, 1862 bis 1876 der Krieg gegen die Sioux, 1871 bis 1886 der Krieg gegen die Apachen(19). Das Massaker am Wounded Knee fand am 29. Dezember 1890 statt(20). Bekanntlich war mit dem Ende der Kriege, wenn man sie so bezeichnen kann, der Terror gegen die Indianer keineswegs beendet. Hier ist nicht der Ort, die Greuel der Reservate, die sytematische Kulturvernichtung und die bis zum heutigen Tag andauernde massive Indianerdiskriminierung(21) zu referieren, festzustellen bleibt, daß die Theosophie aufkam, als die heiße Phase des Völkermords noch im Gange war. Tatsächlich nahm Blavatzki zu diesem auch in einer Weise Stellung, die keine Deutlichkeit vermissen läßt: "Ein Decimierungsvorgang findet über die ganze Erde statt unter jenen Rassen, deren Zeit um ist...Es ist ungenau zu behaupten, daß das Aussterben einer niederen Rassen ausnahmslos eine Folge der von Kolonisten verübten Grausamkeiten und Mißhandlungen sei...Rothäute, Eskimos, Papuas, Australier, Polynesier usw. sterben alle aus...Die Flutwelle der inkarnierten Egos ist über sie hinweggerollt, um in entwickelten und weniger greisenhaften Stämmen Erfahrungen zu ernten; und ihr Verlöschen ist damit eine karmische Notwendigkeit.(22)"

Daß die Begründerin der Theosophie den Völkermord rechtfertigt, überrascht nicht. Uns hat hier zu interessieren, daß die rassistische Praxis von Staat und Gesellschaft als "karmische Notwendigkeit" präsentiert wird, also als kosmisch bedingte, unabwendbare Erscheinung. Die Ausführenden werden nicht nur aus der Verantwortung genommen, sie werden zu Vollstreckern quasi-göttlichen Willens gemacht. Dies gilt nicht nur für die Militärs und Beamten, sondern insgesamt für die jeweiligen Gesellschaften, im Falle des Völkermords an den Indianern für den Staat USA.

Die Sklaverei wurde in den USA zwar 1866 offiziell abgeschafft(23), doch waren noch um 1850 von etwa 23 Millionen Bewohnern des Territoriums der USA über drei Millionen schwarze Sklaven, das heißt: jeder siebte Mensch(24). Daß die rassistische Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung trotz aller gegenteiliger Bemühungen auch heute noch zum US-Alltag gehört, braucht hier nicht gesondert nachgewiesen zu werden. Auch können wir hier Erscheinungen wie die Greuel gegen die chinesischen Eisenbahnarbeiter oder andere rassistische Praktiken der US-Gesellschaft im uns interessierenden Zeitraum nicht behandeln. Der Völkermord bleibt, wie auch im deutschen Faschismus, stets das herausragendste Ergebnis, das der Rassismus nach sich zieht, wenn auch festgestellt werden muß, daß die USA der einzige Staat der Welt sind, dessen Existenz auf Völkermord beruht. Dies ist für uns von Interesse, weil die Theosophie eine ursprünglich US-amerikanische Lehre ist.

Allerdings kann und muß eingewendet werden, daß Völkermord auch ohne Theosophie von den ihn betreibenden Gesellschaften durchgeführt werden konnte und kann. Vertreibungs- und Vernichtungskriege gegen Indianer wurden in den USA auch schon vor dem Aufkommen der Theosophie geführt, ohne daß die diversen ideologischen und moralischen Debatten des 18. und 19. Jahrhunderts diese auch nur im Mindesten beinträchtigten, sodaß in diesem Zusammenhang Rechtfertigung durch die Theosophie überflüssig war und mithin kein gesellschaftlicher Bedarf nach ihr bestand. Wenn alte Erklärungs- und Legitimationsideologien hinreichen, entstehen keine neuen. Völkermord und Rassismus als gesellschaftliche Praktiken haben die Theosophie offenbar nicht hervorgebracht.

Bezeichnend ist aber, daß die Theosophie ein hierarchisches Stufenmodell lehrt und nicht ein solches, das nur zwischen zwei Gruppen, den Hochstehenden und den Niederen, unterscheidet. Betrachten wir die US-Bevölkerung zum Zeitpunkt des Aufkommens der Theosophie, so finden wir eine strukturelle Übereinstimmung zwischen der theosophischen Vorstellung vom Kosmos und der sozialen Realität: an der Spitze einer Art Abstammungspyramide standen die angelsächsischen Einwanderer, insbesondere die Mayflower-Familien Neuenglands, auf welche in differenziert abgestufter Form, den sozialen Status betreffend, die anderen nord- und mitteleuropäischen Einwanderer folgten, dies mit Ausnahme der Iren, welche mit Italienern, Portugiesen und anderen Süd- und Westeuropäern weiter unten im Schema zu finden waren, gleichermaßen die Osteuropäer - es ist überflüssig, zu erwähnen, daß Einwanderer anderer Hautfarbe oder sogenannte Mischlinge sozial deutlich unter jedem Weißen standen, sich aber immer noch über Schwarze und Indianer erhaben fühlen durften. Bis zum heutigen Tag sind gesellschaftliche Spitzenpositionen fast ausschließlich dem "White Anglo-Saxon Protestant" vorbehalten. Strukturelle Übereinstimmungen sind stets höchst bedeutsam. Das Christentum, dessen keineswegs pauschal zu beurteilende Rolle bezüglich Völkermord und Rassismus im Rahmen unserer Untersuchung nicht besprochen werden kann, lehrt eine solche Abstammungspyramide nicht. Auf Abstammung beruhende soziale Ausgrenzung gegenüber Christen war und ist im und mit dem Christentum stets problematisch, zumal, was unsere Untersuchung anbelangt, das mittelalterliche Drei-Stände-Dogma in den USA außer Kraft gesetzt war. Die Inquisition war zu ihrer Zeit in Spanien und den spanischen Besitzungen zwar aufgrund von Abstammungskriterien gegen Christen arabischer oder jüdischer Herkunft vorgegangen, aber stets unter dem Vorwand der Irr- oder Ungläubigkeit, was bei analogem Vorgehen in den USA seitens der Abstammungselite wegen der vielfältigen protestantischen Bekenntnisse enorme Probleme aufgeworfen hätte. Hier war also ein Gelegenheitsfenster für eine Lehre entstanden, die die soziale Abstammungspyramide kosmisch-religiös legitimierte. Das Durkheimsche Religionskriterium ist erfüllt: die Theosophie verehrt die Abstammungspyramide.

Hinzu kommt, daß alle bürgerlichen Gesellschaften ein soziales Stufenschema aufweisen, das vom Besitz abhängig ist. Besitzverhältnisse und ihre vielfältigen sozialen Folgen, die durchaus bis zur Ressourcenkontrolle und den damit verbundenen gesellschaftlichen Machtverhältnissen reichen, die oftmals der gesellschaftlichen Ideologie Hohn sprechen, bedürfen immer neuer Legitimationen, da ihre Rolle im sozialen Alltag und bei politischen Entscheidungsprozessen nie ganz zu vertuschen ist. Auch und gerade hier erweisen sich Theosophie und Ariosophie als wirksam. Im Ariosophieprojekt wird diese Problematik noch häufiger zur Sprache kommen, da dieses sich ja nunmehr mit Religion und Weltanschauung im gesellschaftlichen Bezug befaßt.

Da wir also im sozialen Sektor fündig geworden sind, das gesellschaftliche Unbehagen über eine schlecht legitimierte Abstammungspyramide den großen Erfolg der Theosophie aber nicht hinreichend erklärt, wollen wir sehen, ob nicht gesellschaftliche Spannungsfelder im sozialen Bereich stärkeren Bedarf nach der Theosophie weckten. Ihr Aufkommen fällt in den Zeitraum, in welchem die industrielle Revolution die USA erfaßte. Die industrielle Revolution schuf in den USA nicht wie in Europa eine Machtverschiebung weg von der Aristokratie hin zum Bürgertum, da es in den USA keine Aristokratie gab.Die industrielle Revolution schuf überall, wo sie auftrat, ein gesellschaftliches Problem: das Aufkommen des Proletariats. Mit dem Proletariat kam immer und überall die Arbeiterbewegung, zunächst als Interessenvertretung gegenüber den Fabrikbesitzern (Gewerkschaften), schließlich als politische Kraft, die Bürgertum und Aristokratie (wo es letztere gab) in Angst und Schrecken versetzte: der Generalstreik ist eine Waffe, die Bauern nicht zur Verfügung steht. Im Gegensatz zu spätmittelalterlichen Bauernaufständen wurde seitens der Arbeiterbewegung schließlich überall das gesamte gesellschaftliche Gefüge samt seinem Legitimationsgebäude in Frage gestellt, und dies war in den USA zunächst ein größeres Problem als in Europa. Dies aus zwei Gründen: erstens war die staatstragende Ideologie der USA in bezug auf kategorische Unterordnungsgebote weniger ausgeprägt und von weit geringerer Kontinuität als die alten europäischen Systeme, zweitens wurde die Stoßkraft der Arbeiterbewegung nicht in die Händel der Bürger mit den Aristokraten umgeleitet, wie es in Europa anfangs der Fall war. Der Konflikt war antagonistisch, direkt und nicht zu verschleiern. Als Folge hatten die USA die blutigste Arbeitsgeschichte der Welt(25).

In diesem Zusammenhang ist eine Lehre der unverrückbaren kosmischen Hierarchie, die alles Leiden (hier: das Elend des Proletariats) mit dem "Karma" erklärt und die gesellschaftlichen Zustände, die von der Arbeiterbewegung angegriffen werden, religiös wiederspiegelt und legitimiert, im Durkheimschen Sinne sehr gefragt.

Begreifen wir die Theosophie, antidemokratisch und rassistisch wie sie ohnehin ist, als religiös-gesellschaftliche Reaktion auf die Arbeiterbewegung, gewinnt unsere oben geäußerte These vom latenten gesellschaftlichen Potential hin zu Gesellschaftsordnungen, deren Entsprechung Theosophie und Ariosophie sind, erheblich an Gewicht.

Im Falle der Ariosophie26 finden wir einen Entstehungskontext, der eine mit der amerikanischen Problematik vergleichbare Situation ist, wenn auch auf den ersten Blick große Unterschiede zu bestehen scheinen. Lists Publikationen ab 1902(27) fielen in eine Zeit, als die K. u. K. - Monarchie Österreich-Ungarns, eine der letzten Bastionen der Herrschaft alten Stils, auf eine Vielzahl verwickelter Krisen zusteuerte. Auch Österreich-Ungarn kannte ethnische Diskriminierung, und zwar seitens der eigentlichen Österreicher, damals als die "Deutschen" bezeichnet, gegenüber den Tschechen und Ungarn sowie den ethnischen Minderheiten. Ungleich schwerer wiegt aber auch hier der Effekt, den die Industrialisierung und mithin die Arbeiterbewegung hervorriefen: in einem Staat, in dem Erzherzöge und Hofräte die politische Szene beherrschten, warf allein schon der reale Machtzuwachs des Bürgertums Probleme auf. Tatsächlich scheint es, als fänden wir die USA und Österreich-Ungarn an zwei extremen Enden einer Skala: war das US-amerikanische System durch mangelnde Herrschaftskontinuität legitimationsschwach, so war Österreich-Ungarm gefangen in seinem starr-verkrusteten, althergebrachten Legitimationsgebäude. Folgerichtig schlugen sich die Ariosophen in so extremer Weise auf die Seite der alten Ordnung, daß sie nicht nur neue Adelstheorien schufen, sondern sogar ihre eigentümliche Selbstadelungstradition ins Leben riefen, die von Guido "von" List und Lanz "von Liebenfels" bis zu Sigrun "von Schlichting" reicht und somit hier auch ihre Erklärung gefunden hat.

Auf eine Wiederholung der Hauptcharakteristika der Ariosophie können wir hier getrost verzichten. Lanz "v. Liebenfels" verbreitete seine politisch-antidemokratischen und esoterisch-ariosophischen Thesen als Publizist quasi parallel und nebeneinander: "Ab 1900 schrieb Lanz regelmäßig in völkischen und sozialdarwinistischen Zeitungen und entwickelte in diesen Artikeln seine neognostische, rassistische Religion. 1905 veröffentlichte er seine rassenreligiöse Grundschrift Theozoologie und gründete eine eigene Zeitschrift namens Ostara. Diese "einzige und erste rassenwirtschaftliche Zeitschrift, die die Ergebnisse der Anthropologie praktisch in Anwendung bringen will, um den Umsturz und das Urrassentum wissenschaftlich zu bekämpfen (! der Verf.) und die europäische Edelrasse durch Reinzucht vor dem Untergang zu bewahren," behandelte anfangs vor allem politische und wirtschaftliche Probleme der Habsburger Monarchie von einem antiliberalistischen und alldeutschen Standpunkt aus. Später nahmen Themen wie rassische Somatologie, Anti-Feminismus und Anti-Parlamentarismus (! der Verf.) breiteren Raum ein. Zu den Autoren zählten unter anderem Mitglieder der Guido-von-List-Gesellschaft.(28)"

Es versteht sich, daß die Thesen der Arbeiterbewegung einem solchen Autor und seinen Lesern höchstes Mißvergnügen bereiteten, aber darum geht es hier nicht. Zur Untermauerung unserer These, Theosophie und Ariosophie seien eine gesellschaftlich-religiöse Reaktion auf die Arbeiterbewegung, müssen wir noch sehen, ob theosophische und ariosophische Thesen Antagonismen bzw. Inversionen der Thesen der Arbeiterbewegung sind. Die Thesen der Arbeiterbewegung beruhten auf materialistischer Weltbetrachtung, die Hauptthese war die prinzipielle Gleichheit der Menschen und das dadurch fundamentale Unrecht der Klassengesellschaft, die daraus resultierenden Forderungen waren die nach Abschaffung der Herrschaftsverhältnisse (Revolution oder Reform) und internationaler Solidarität des Proletariats. Die Thesen der Theosophie und Ariosophie beruhen auf esoterischer Weltbetrachtung bei entschiedener Ablehnung der Rationalität: "Der Verstand ist der große Schlächter des Wirklichen. Der Jünger muß den Schlächter töten.(29)" Ihre Hauptthese ist die prinzipielle und kosmisch vorgegebene Ungleichheit der Menschen und die damit begründete Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit autoritärer Herrschaft. Die Einteilung der Menschen in "Rassen" dient nicht nur der Herrschaftslegitimation und der von Völkermord und Sklaverei, die geradezu als Ziele genannt werden30, sondern läßt auch internationale Solidarität entweder als völlig unsinnig - oder als Verschwörung der "Niederrassigen" gegen die "Edelrasse" erscheinen, von der immer klarer wird, daß wir sie primär sozial zu verstehen haben. Die Reihe der Inversionen ließe sich fortsetzen, das grundsätzliche Verhältnis ist klar geworden.

Hier sei noch einmal die Hypothese des quasi-seismographischen Reagierens von Menschen auf gesellschaftliche Prozesse wiederholt: dem einzelnen Theosophen bzw. Ariosophen muß dieses Verhältnis keineswegs bewußt sein. Eine Einschätzung des Wissens des Einzelnen - sei er nun Religionsstifter, Förderer, Anhänger oder Mitläufer - um die eigentlichen (im Sinne unserer Untersuchung: gesellschaftlichen) Inhalte der Lehre bleibt immer schwierig zu beurteilen. Liebenfels war die allgemeine politische Ausrichtung seiner Lehre durchaus klar, wie wir oben gesehen haben, dies heißt aber nicht, daß ihm die Gesetzmäßigkeiten im Zusammenwirken von Religion und Gesellschaft bekannt waren. Guido "von" List schrieb 1907 an den Großindustriellen Friedrich Wanniek, der Stifter und Ehrenpräsident der "Guido-von-List-Gesellschaft" war und zweitausend Kronen in sie investiert hatte(31): "Daß ich es Ihrem aufmunternden Interesse, hochverehrter Herr und Freund, in allererster Linie zu danken habe, daß ich mich diesen Erforschungen schier unbegrenzter Gebiete hingeben konnte und auch fernerhin zu widmen vermag, so sei es mir vergönnt, die erste Veröffentlichung aus der Reihe meiner Forschungsergebnisse hiermit Ihnen, hochverehrten Herrn und teuren Freund, als eine unter Ihrem weitausblickenden Wirken herangereifte Frucht in dankbarer Verehrung zuzueignen.(32)" Es ist durchaus statthaft, davon auszugehen, daß der Großindustrielle Wanniek in Lists Werk weitreichende politische und weltanschauliche Möglichkeiten sah und es diese waren, die er sich zweitausend Kronen kosten ließ, es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß er anno 1907 über religionsanthropologische Kenntnisse verfügte - und daß "von" List nicht nur auf diesem Feld sehr erhebliche Inkompetenz aufwies, beweisen seine Geschichtsprojektionen zur Genüge. Von reinem quasi-seismographischen Reagieren kann man also bei Wanniek nicht ausgehen, wohl aber bei solchen Ariosophen, die von gesellschaftlichen Mechanismen nicht die geringste Ahnung haben. Es geht hier nicht so sehr um die jeweilige moralische Beurteilung, sondern um das Interagieren und Korrelieren von Gesellschaft und Religion bzw. Weltanschauung. Daß man dies versteht, ist von entscheidender Bedeutung in Hinblick auf Ausrichtung der eigenen Initiative, wenn man gesellschaftlichen Entwicklungen entgegentreten will, für die Theosophie und Ariosophie stehen.

Durch unsere These - Theosophie und Ariosophie sind eine religiös-gesellschaftliche Reaktion auf die Arbeiterbewegung - wirkt auch die historische Tatsache, daß das deutsche Groß- und Besitzbürgertum 1933 aus Angst vor der Arbeiterbewegung der NSDAP den Weg zur Macht ebnete, keineswegs als unglückliche Notlösung. Dieser Schritt war lediglich konsequent, ganz unabhängig davon, wie es um das Wissen der in Rede stehenden Bank- und Industriepotentaten um die oben erörterten Zusammenhänge bestellt war.

Weiterhin erscheint der Rassismus der Theosophie und der Ariosophie im Licht dieser Untersuchung jetzt zwar nach wie vor als wesentlicher Bestandteil dieser Lehren, die primär soziale Zielrichtung von Theosophie und Ariosophie verleihen ihm innerhalb der Lehren aber eine andere Funktion: der esoterisch-religiöse Rassismus ist primär sozial zu verstehen, die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer ethnisch-genetischen Abstammung ist eine inhaltliche Notwendigkeit einer Lehre, die eigentlich soziale Veränderungen abfangen und soziale Verhältnisse einfrieren oder extremer gestalten will.

2.4. Religiöse Erneuerungsbewegungen

Mit der bezeichnenden Ausnahme des deutschen Faschismus - denn der spanische und italienische Faschismus unterschieden sich auch weltanschaulich von diesem - waren weder Theosophie noch Ariosophie je offizielle Weltanschauung oder gar Hauptreligion einer Gesellschaft. Das heißt: sie waren und sind religiöse Erneuerungsbewegungen, wenn sie auch die gesamte Grauzone hin zur Weltanschauung und dieses Feld ebenfalls mit umfassen. Gleichermaßen ist Wicca, an welcher Religion wir die oben skizzierten zwei Widersprüche auflösen wollen, eine religiöse Erneuerungsbewegung. Es ist also notwendig, sich mit religiösen Erneuerungsbewegungen als solchen zu befassen.

Wir wir schon eingangs klargemacht haben, liegt ein großes Manko der bisherigen Betrachtung darin, daß im Grunde lediglich betrachtet wurde, was die jeweiligen Religionen lehren und aussagen. Wir haben in diesem Projekt erstmals die strukturelle Ebene einbezogen und sind dadurch erheblich weitergekommen, wenden uns nunmehr aber verstärkt dem Umstand zu, daß die in Rede stehenden Religionen Religionen sind. Auf dieser Ebene fallen erhebliche Unterschiede ins Auge, die sonst der Betrachtung entgehen.

Zunächst fällt auf, daß Theosophie und Ariosophie ursprünglich in Form von Gesellschaften und Orden organisiert waren. Die strukturelle Übereinstimmung zwischen Inhalt und Organisationsform haben wir bereits behandelt, hier ist von Interesse, daß weder die theosophische Gesellschaft noch die "Guido-von-List-Gesellschaft" oder Liebenfels´Neuer Templer-Orden Kultgemeinschaften waren. Ebensowenig waren sie religiöse Bewegungen: Orden und Gesellschaften haben ein exklusives Selbstverständnis und stehen daher geradezu im Gegensatz zu Bewegungen, denen sich ein jeder anschließen kann. Hierher gehört auch das Selbstverständnis insbesondere der Theosophen als Esoteriker, also als Menschen, die über nur Eingeweihten zugängliches Wissen verfügen sowie ihre Behauptung, mit der "Großen Weißen Bruderschaft" in Kontakt zu stehen(33), also quasi unter der eigentlichen Leitung der kosmischen Elite zu agieren.

All diese Gesellschaften und Orden verkündeten und verkünden das Kommen des Neuen Zeitalters. Eine theosophische Version lautet so: "Die arische Rasse, zu der wir gehören, tritt nun in einen neuen Zyklus ein, in welchem die westlichen Völker dasjenige ernten werden, was sie im vergangenen Zyklus unter der Herrschaft der christlichen Kirche gesät haben...Während des kommenden Zyklusses sollen sich alle Verhältnisse in der menschlichen Gesellschaft auf kirchlichem, wissenschaftlichem, sozialem und politischen Gebiete vollständig verändern, wie dies schon oft in der Vergangenheit geschehen ist.(34)" List verstand es sogar, seine Version auf eine Art zu formulieren, daß der Antagonismus zwischen Ariosophie und Arbeiterbewegung, den wir oben herausgearbeitet haben, klar hervortritt: "...und es wird jener - von der Gottheit gewollte und vorherbestimmte - Zustand allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erreicht werden, welchen wohl die Soziologen herbeisehnen, welchen aber die Sozialisten mit falschen Mitteln herbeiführen wollen, weil sie den esoterischen Begriff nicht zu fassen vermögen, der in der Dreiheit: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verborgen ruht...(35)"

Die Verheißung des Neuen Zeitalters erinnert zunächst sehr stark an die New-Age-Esoterik unserer Tage, welche in der Tat auch sonst in starker inhaltlicher Abhängigkeit zur Theosophie steht, was besonders am im theosophischen Sinne interpretierten Karma-Begriff deutlich wird. Wir werden im Rahmen dieses Projekts auf die New-Age-Esoterik als religiöse Erneuerungsbewegung noch ausführlich zu sprechen kommen. Tatsächlich haben wir es hier aber mit einem Phänomen zu tun, das weder neu ist noch notwendigerweise mit autoritär-rassistischen Lehren gekoppelt auftritt: dem Millennialismus. Der Begriff hängt mit "Millennium", Jahrtausend, zusammen, was mit der üblichen Verheißung, der paradiesische Zustand würde tausend Jahre währen, zusammenhängt. Die Verheißung des Tausendjährigen Reichs seitens der Nationalsozialisten gehört wohlweislich in diesen Zusammenhang und wird hier noch Erwähnung finden.

Wir können hier den Millennialismus nicht im eigentlich notwendigem Maße besprechen, da er ein außerordentlich komplexes Phänomen ist, müssen uns aber ein wenig mit ihm beschäftigen, da er für unsere Thematik von Belang ist.

Häufig tritt der Millennialismus, auch als millennaristische Bewegung bezeichnet, gemeinsam mit dem Phänomen der messianischen Bewegung auf, welche entweder von einem "Heilsbringer" geführt wird oder einen solchen erwartet36. Es versteht sich, daß der Millennialismus auch mit eschatologischen Vorstellungen, also solchen vom Ende der alten Welt oder der Welt schlechthin, häufig eng verbunden ist, denn das Neue Zeitalter bedingt das Ende des alten. Diese Vorstellungen können durchaus kataklysmatische Szenarien beinhalten, wofür uns hier die biblische Apokalypse als allgemein bekanntes Beispiel dienen soll. Die totale Vernichtung der physischen Welt ist keineswegs ein Szenario aller Formen des Millennialismus, dient uns aber hier zur Verdeutlichung eines für den Millennialismus charakteristischen Inhaltes: das Kommen des Neuen Zeitalters verdammt menschliches Tun, das nicht der Vorbereitung dieses Ereignisses bzw. Prozesses dient, zur Sinnlosigkeit.

Der Millennialismus ist ein kulturgeschichtlich sehr altes Phänomen. "Im Iran, in Babylon und in Ägypten war die Vorstellung von einem göttlichen Herrscher und neuem Äon, einem kommenden Retter und einer seligen Endzeit bekannt...Besonders in der Verkündigung Zarathustras (zw. 1000 und 600 v. Chr.)spielte die Vorstellung vom nahenden Gottesreich eine große Rolle...Auch der assyrische König Assurbanipal (668 - 626 v. Chr.) wurde als der erwartete Heilbringer und Gottessohn gefeiert, mit dessen Regierung das neue Zeitalter beginne.37" Hier sei erwähnt, daß das Christentum mit seiner Verheißung des Gottesreiches in den Bereich des Millennialismus gehört, zumal offenbar zunächst Jesus selbst mit der baldigen Verwirklichung des Gottesreiches rechnete, dann seine Jünger seine baldige Wiederkehr erwarteten, auch die Apokalypse das baldige Weltende voraussagte und schließlich ein schwieriger und verwickelter Umdeutungsprozeß nötig wurde, um aus der Naherwartung eine Fernerwartung zu machen(38). Hier soll keineswegs eine Polemik gegen das Christentum vorgetragen werden, es dient uns vielmehr in mancherlei Hinsicht als Beispiel, vor allem weil die ursprünglich millennialistischen Lehre des Christentums gut belegt ist und sich Charakteristika des Millennialismus mit gut und allgemein bekannten Beispielen belegen lassen. Weiterhin ist der Millennialismus des Christentums für uns auch insofern interessant, als aus ihm heraus ständig neue millennialistische Bewegungen entstanden und entstehen, ferner belegt es in beeindruckender Weise, daß das Nichteintreten des Neuen Zeitalters, wenn es denn als unmittelbar bevorstehend prophezeit wurde, keineswegs das Ende der Religion bedeuten muß, welche um diese Prophezeihung herum entstand.

Kennzeichnend für den Millennialismus ist ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Gesellschaft und zum menschlichen Körper: "Den Millennialisten erscheint die Gesellschaft als ein System", so Mary Douglas, "das per se funktionsunfähig ist, und der menschliche Körper als das greifbarste Abbild dieses Systems. Das soziale Erleben wird bei dieser Einstellung von dem Eindruck beherrscht, daß die auf so unerklärliche Weise unergiebigen persönlichen Beziehungen des einzelnen vom sozialen System deformiert werden. Und dementsprechend neigt man dazu, den menschlichen Körper als Symbol des Bösen schlechthin zu betrachten, als strukturiertes System, das als solches im krassen Gegensatz zum reinen Geist steht, der seinem Wesen nach völlig frei und undifferenziert ist. Der Millennialist ist nicht daran interessiert, die ihm feindlich gegenüberstehenden Gegebenheiten zu identifizieren und unschädlich zu machen. er glaubt an eine utopische Welt, in der "das gute Herz" sich ganz ohne Rückgriff auf ein institutionalisiertes Instrumentarium durchsetzen kann. Und deshalb liegt ihm auch nichts an einer bestimmten Gesellschaftsform: Wenn es nach ihm ginge, würden sie alle samt und sonders hinweggefegt...Philosophisch neigt er zu einer strikten Trennung zwischen Geist und Fleisch, zwischen Geist und Materie. Aber das Fleisch bedeutet dabei keine Versuchung zur Lust und zum körperlichen Entzücken, sondern viel eher die Korruption durch Macht und Organisation.(39)"

Es sei hier daran erinnert, daß wir bereits die Vorstellung des Armanenordens, der Geist schaffe sich einen Körper, als mit naturreligiösen Vorstellungen unvereinbar und mithin als Indiz für den Antagonismus von Ariosophie und Naturreligion herausgestellt haben(40). Die Vorstellung des Armanenordens erklärt sich durch den Millennialismus der Theosophen und Ariosophen.

Mary Douglas´ Charakterisierung des Millennialismus wirft einen krassen Widerspruch zwischen den Charakteristika des Millennialismus einerseits und der gesellschaftlichen Funktion und Ausrichtung von Theosophie und Ariosophie andererseits auf. Wir können ihn auflösen, wenn wir zwischen gesellschaftlicher Funktion einerseits und der subjektiven Motivation des einzelnen Millennialisten, hier: Theosophen oder Ariosophen andererseits unterscheiden. Es scheint so, als wolle der einzelne Theosoph oder Ariosoph primär dem paradiesischen Neuen Zeitalter entgegenfiebern, das er sich, siehe oben, seinen Lehren entsprechend vorstellt, als wolle er teilhaben am geheimen Wissen um dieses paradiesische Zeitalter und damit zu den Auserwählten gehören, als könne er die Herabkunft des Neuen Zeitalters gar nicht erwarten. Damit erklärt sich, wohlgemerkt subjektiv, also aus der Perspektive des Ariosophen oder Theosophen, sein Rassismus und seine Befürwortung autoritärer Systeme aus der millennialistischen Abscheu gegen "die Gesellschaft", also im millennialistischen Sinne gegen "Gesellschaft" schlechthin. Wir erinnern uns: der Armanenorden verkündet, die rassistische Theokratie sei die "Urdemokratie" und mache Politik unnötig(41). Als wir uns erstmals mit dieser These beschäftgten, war es der erste Teil, der für uns bedeutsamer war, nunmehr ist es der zweite. Politik gehört zur Gesellschaft, und da Millennialisten Gesellschaft per se für funktionsunfähig halten, kann es im Neuen Zeitalter weder Gesellschaft noch Politik geben. Das tatsächliche politische Agieren der Ariosophen erklärt sich, ebenso wie der Rassismus, daran, daß es für ihn lediglich die "niederen Rassen" und ihre finsteren Machenschaften sind, die verhindern, daß das Neue Zeitalter schon da ist, und zwar weil die "Edelrasse" ja nicht schuld sein kann. Andere Formen des Millennialismus neigen ebenfalls dazu, Sündenböcke für das Ausbleiben des Neuen Zeitalters verantwortlich zu machen. Die aktive Befürwortung von Völkermord seitens der Theosophen und Ariosophen erklärt sich eben dadurch, daß das Neue Zeitalter aus ihrer Sicht zwangsläufig kommen muß, sind die "niederen Rassen" erst vernichtet. Wer mittels Politik Verhältnisse ändern will, wie die Arbeiterbewegung, wie die Sozialisten in Lists Ausführung, steht dem Neuen Zeitalter im Wege, da er Politik betreibt, noch dazu womöglich im Sinne der "niederen Rassen", und muß daher, und dies ist das Paradoxon des rassistischen Millenialismus, politisch bekämpft werden.

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, kurz auf das Dritte Reich zu sprechen zu kommen. In diesem finden wir alle bisher herausgearbeiteten Charakteristika wieder: den Führer, das Tausendjährige Reich, die Volksgemeinschaftsideologie und nicht zuletzt alle Charakteristika einer religiösen Erweckungsbewegung: die Massenveranstaltungen, die skandierenden Chöre, die Prozessionen mit Fahnen und Insignien, die Verwendung suggestiver Symbole, die Vermischung politischer und religiöser Aussagen und nicht zuletzt das Bemühen, die millennialistische Begeisterung am Kochen zu halten. Es war gelungen, den ariosophischen Millennialismus zu einem politischen System auszuformen. Es wurde behauptet, das Neue Zeitalter sei da, die sozialen Gegensätze seien verschwunden - dies, indem man sie leugnete - und die Vernichtung der "niederen Rassen" fand statt. Möglicherweise erklärt sich die Verwirrung vieler zeitgenössischer Autoren ob einiger Charakteristika des Dritten Reiches dadurch, daß sie den Millennialismus als solchen nicht verstehen, welcher übrigens auch beim Neofaschismus eine ganz entscheidende Rolle spielt. Ausländerhaß und Nationalstolz sind nicht immer sein Ausgangspunkt, sondern oft Symptome des rassistischen Millennialismus. Dieser eröffnet auch eine Perspektive auf den Holocaust, der sonst in seiner Ungeheuerlichkeit nur unzureichend zu erklären ist.

Das Dritte Reich ist für den rassistischen Millennialismus auch insofern von Bedeutung, als er nun endgültig aus dem Bereich der Orden und Gesellschaften heraustrat und zur Massenbewegung wurde. Im Grunde behielt er in der Folge beide Charakteristika bei: einerseits ist der Armanenorden ein Orden mit Alleinvertretungsanspruch, andererseits grassiert die Ariosophie in weiten Bereichen der Heidenszene, was, wie wir gesehen haben, der Durchmischung von Heidentum und Ariosophie Vorschub leistet.

Wir müssen hier noch einen Begriff einführen, der für unsere Untersuchung ebenso zentral ist wie der des Millennialismus, nämlich den der Revitalisierungsbewegung. Revitalisierungsbewegungen treten häufig gemeinsam mit dem Millennialismus auf. Sie sind der Versuch, auf einen bestimmten Bereich der kulturellen Vergangenheit einer Gesellschaft zurückzugreifen und die dort ausgemachten Verhältnisse, die oft idealisiert werden, wiederherzustellen oder an ihn anzuknüpfen. Der ariosophische Millennialismus wurde durch Lists Wahnsystem mit Elementen einer Revitalisierungsbewegung durchsetzt: zwar lassen sich Lists diesbezügliche Behauptungen mit dem germanischen Altertum in keiner Weise in Einklang bringen, weiterhin bedienten sich andere Ariosophen wie Liebenfels nicht der Germanenprojektion, die Verwendung von Lists Ideen im Dritten Reich führte aber zu der diesbezüglichen allgemeinen Verwirrung, die wir im Rahmen dieses Projekts schon häufig angesprochen haben: alles Germanische wird allgemein mit Nazi-Faschismus gleichgesetzt. Hiervon profitieren die heutigen Ariosophen, und wir wollen hier noch einmal klarmachen, daß, wer germanische Kultur und Religion mit Faschismus in einen Topf wirft, eine Lüge des Dritten Reichs wiederholt. Der Begriff der Revitalisierungsbewegung ist hier zentral, weil Bemühungen, die alten europäischen Naturreligionen wiederzubeleben, Revitalisierungsbewegungen sind. Sie greifen, wie gesagt, alle auf kulturelle Vergangenheit zurück, und dies kann in akkurater oder phantastischer Weise geschehen. Warum aber wird auf kulturelle Vergangenheit zurückgegriffen? Hier ist es sehr wichtig, zu verstehen, daß die offizielle Weltanschauung jeder Gesellschaft ebenfalls auf die kulturelle Vergangenheit zurückgreift; das Geschichtsbild einer Gesellschaft ist für ihr Legitimationsgebäude von entscheidender Bedeutung. Hier ist wohlweislich vom Geschichtsbild die Rede, nicht von der Geschichte: es sind nicht immer die Revitalisierungsbewegungen, die Vergangenheiten idealisieren, auch offizielle Weltanschauungen tun dies.

Ein kurzes Beispiel, das allerdings, vornehmlich der gebotenen Kürze halber, die Gefahr der Polemik in sich trägt: der antike Staat Athen mit seiner Demokratie taucht häufig in der gymnasialen Mittelstufe im Geschichtsunterricht auf und wird dort ob der Demokratie lobend hervorgehoben. Weniger bis gar nicht thematisiert wird, daß Athens Ökonomie auf der Sklaverei beruhte, seine Außenpolitik auf die Unterwerfung anderer hellenischer Stadtstaaten abzielte, ausländische Mitbürger (Metöken) und Frauen ganz gleich welcher Abstammung so gut wie keine staatsbürgerlichen Rechte hatten und die tatsächliche Macht im Staate de facto in der Hand einer reichen Elite lag, welche professionelle Demagogen beschäftigte, damit diese die Volksversammlung der Männer athenischer Abstammung entsprechend bearbeiteten. Der Sinn der positiven Heraushebung Athens liegt offenbar darin, ein entsprechend positives Bild der hellenischen Kultur zu zeichnen, aus welcher die christlich-abendländische Kultur reichlich geschöpft hat, welcher sich aber vornehmlich dadurch auszeichnete, daß er alle anderen Kulturen als "Barbaren" verachtete, ständig in Kriege verwickelt war, und daß seine zahlreichen Gemeinwesen samt und sonders von kleinen, elitären Minderheiten beherrscht wurden. Andererseits, dies sei der Vollständigkeit halber gesagt, herrschen bei einer hier schon oft behandelten Revitalisierungsbewegung - oder doch einer Bewegung, die als Revitalisierungsbewegung auftritt - nämlich der Heidenszene, haarsträubend ahistorische Geschichtsprojektionen bezüglich alter europäischer Kulturen vor, Marion Zimmer Bradleys "Nebel von Avalon" haben wir schon entsprechend erwähnt. Die Eigenpublikationen der Heidenszene überbieten dieses Werk jedoch gelegentlich mit Leichtigkeit, man wähnt, eine Wiederauflage der Schäferidyllen des 17. und 18. Jahrhunderts zu erleben.

Das Geschichtsbild einer Gesellschaft dient weiterhin dazu, bestimmte Gesetzmäßigkeiten zu vermitteln, die aber gar nicht der Geschichte selbst innewohnen, sondern lediglich dem Geschichtsbild: auf diese Weise wird das historisch-politische Kausalitätsmodell der Gesellschaft vermittelt, das sich in Zirkelschlüssen selbst beweist, aber mit der historischen Realität und den tatsächlich existierenden Gesetzmäßigkeiten möglicherweise gar nichts zu tun hat. Das historisch-politische Kausalitätsmodell einer Gesellschaft gehört zu ihrer Weltanschauung, und diese dient der Selbsterhaltung der Gesellschaft. Ein Beispiel hierfür ist die Lehre vom Fortschritt: in Form einer linearen Entwicklung, so die christlich-abendländische Weltanschauung, nimmt das menschliche Wissen zu, und hierdurch werden die Lebensbedingungen der Menschen ständig verbessert. Das kann man anders sehen. Insbesondere die ökologische Katastrophe und die drohende thermonukleare Vernichtung haben als nicht wegzudiskutierende Fakten der Lehre vom Fortschritt erheblich an Glanz genommen. Auch lassen die permanent fortschreitende Zerrüttung der Lebensverhältnisse und die dadurch verursachten vielfältigen Dauerkrisen wenig Fortschrittsglauben übrig. Dieser besagt, der Fortschritt komme quasi von selbst und unabwendbar. Zerbröckelt aber der Fortschrittsglaube, tritt nicht notwendigerweise die Erkenntnis an seine Stelle, man müsse nunmehr selbst initiativ werden, wenn man bessere Verhältnisse will. Gerade der Millennialismus gedeiht unter solchen Bedingungen hervorragend.

Revitalisierungsbewegungen sind also alternative Versionen der kulturellen Geschichtsbetrachtung, und zwar sowohl bezogen auf Wertungen als auch bezogen auf Kausalitätsmodelle. Revitalisierungsbewegungen sind aber auch religiöse Bewegungen, und zwar religiöse Erneuerungsbewegungen. Hier wird Religion zur Kulturkritik.

Der Millennialismus, auch der rassistische, übt ebenfalls Kulturkritik, doch als Millennialismus negiert er Kultur im Grunde ebenso total wie Gesellschaft. Revitalisierungsbewegungen und Millennialismus können durchaus gemeinsam auftreten, weisen aber fundamentale inhaltliche Gegensätze auf, die zu Widersprüchen werden, vermischen sie sich. Denn entweder interpretiert man Kultur und Geschichte neu und anders, und zwar mit dem Ziel, auf dieser Prämisse aufbauend neue Lebensweisen zu entwickeln, oder man erwartet das Neue Zeitalter, in welchem man sich über derlei keine Gedanken zu machen braucht, die in der Zeit der Herankunft ebenfalls überflüssig sind. Die Abgrenzung wird aber oft schwierig sein, denn im Einzelfall ist es nicht immer leicht zu entscheiden, ob eine Maßnahme nun der konstruktiven Neuentwicklung dienen oder die Herabkunft des Neuen Zeitalters beschleunigen soll, insbesondere dann nicht, wenn sich Millennialismus und Revitalisierungsbewegung vermischt haben.

Stefanie von Schnurbein sieht die Ausbreitung des zeitgenössischen Heidentums ab dem Ende der siebziger Jahre in Verbindung mit den oben erwähnten Problemen, die den Fortschrittsglauben erheblich ins Wanken gebracht haben. "Mit ihrer Orientierung an vermeintlich ursprünglicheren und damit auch menschen- und naturgerechteren Kultur- und Religionsformen wendet sich diese geistige Strömung kritisch gegen bestimmte Erscheinungen in der Kultur der westlichen Industrienationen. Am Anfang steht dabei das Gefühl, die moderne Zivilisation sei durch Umweltzerstörung, atomare Bedrohung und durch eine zunehmende Undurchschaubarkeit der Lebenszusammenhänge in eine existenzielle Krise geraten, aus der nur eine geistig-religiöse Erneuerung herausführen könne.(42)" Grundsätzlich ist ihr hier zuzustimmen. Wir müssen aber hervorheben, daß wir es mit zwei Formen von Religion als Kulturkritik zu tun haben, was durch die Thematisierung des Millennialismus deutlich wird, die sich jedoch zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung so durchmischt hatten, daß ohne diese Erörterung der Unterschied nicht sichtbar werden konnte.

Wir haben zu religiösen Erneuerungsbewegungen im Allgemeinen und dem Millennialismus im Besonderen, wohlverstanden im Rahmen unseres Themas, keineswegs alles erörtert, was zu erörtern wäre. Dieser Themenkomplex wird zukünftig noch erheblich ausgeweitet werden müssen. Wir haben uns nunmehr aber eine Grundlage geschaffen, auf welcher wir an die Auflösung der zwei Widersprüche im Wicca herangehen können, und dieser Aufgabe wollen wir uns nun zuwenden.

3. Wicca - die Auflösung der Widersprüche

3.1. Das Verhältnis zur Theosophie

In "Wicca - das trojanische Pferd der Theosophie" haben wir bereits theosophische Elemente im Wicca ausgemacht. Wir wollen nun zunächst zitieren, was Vivianne Crowley, eine Wicca-Autorität, in ihren Buch "Wicca - Die alte Religion im Neuen Zeitalter" zu diesem Verhältnis zu sagen hat:

"In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründete Helena Blavatzki die Theosophische Gesellschaft, die keine rituell arbeitende Gruppe sondern eine spirituell und philosophisch lehrende Organisation war. Madame Blavatzki verfaßte zwei höchst einflußreiche Werke, Isis Unveiled und The Secret Doctrine, in denen sie buddhistische und hinduistische Ideen mit westlichem Neuplatonismus kombinierte und in eklektischer Manier zu einer spirituellen Lehre verband, die auch die Ideen der Reinkarnation und des Karma umfaßte.

"Das Gesetz des Karma besagt, daß unsere Lebensumstände die Folge von Handlungen sind, die wir in unseren vergangenen Leben begangen haben, und daß wir physisch wiedergeboren werden, bis wir das Karma unserer vergangenen Taten abgetragen haben und nach der erforderlichen Anzahl physischer Existenzen in spirituelle Sphären eingehen werden. Einige der Menschen, die bereits dieses vollkommene Stadium erreicht haben, beeinflussen weiterhin die Geschicke der Menschheit und und agieren als Führer oder Meister (Die Rede ist hier von der Großen Weißen Bruderschaft, Anm. d. Verf.).

"Auch wenn im modernen Wicca die eher unreflektierten Interpretationen des karmischen Gesetzes als Gesetz von Sünde und Bestrafung sowie die Idee einer nichtmateriellen Existenz im Gegensatz zur physischen Wiedergeburt auf wenig Gegenliebe stoßen, so haben doch viele dieser theosophischen Ideen des 19. Jahrhunderts über Reinkarnation und Karma das Denken des Wicca und anderer magischer Gruppen entscheidend beeinflußt(43)"

Im Rahmen unserer Untersuchung ist hier von primärem Interesse, daß die theosophische Wurzelrassentheorie weder hier noch an anderer Stelle auch nur erwähnt wird. Sie ist indessen für die Theosophie nicht etwa von marginaler Bedeutung: die menschlichen "Rassen" sind für den Theosophen Inkarnationen verschieden hochstehender kosmischer Stufen, welche das gesamte kosmologische Modell der Theosophie bilden. Das macht den theosophischen Rassismus als Grundsatz der gesamten Lehre unmodifizierbar, denn fällt die "irdische" oder "materielle" Entsprechung zum kosmologischen Bild weg, bricht das gesamte Lehrgebäude zusammen. Eine nicht rassistische Theosophie ist nicht möglich. Ebensowenig ist es möglich, Blavatzkis Rassismus beim Lesen der von Vivianne Crowley angeführten Bücher - sie tauchen in der Bibliographie nicht auf - nicht zu bemerken: wir haben weiter oben ein entsprechendes Zitat vorgetragen.

Die Wurzelrassentheorie wird also von Vivianne Crowley, obwohl für die Theosophie von zentraler Bedeutung, verschwiegen. Da es unmöglich ist, Teile der theosophischen Lehre zu übernehmen, ohne das Stufenschema mit zu übernehmen - die Einwände im zuletzt zitierten Absatz ändern hieran grundsätzlich nichts - können und werden Rassismus und mystisch verbrämter Sozialdarwinismus schließlich bei all jenen Fuß fassen, die eine solche Kosmologie akzeptieren und in ihrem Rahmen Religion praktizieren. Dafür sorgt schon allein die Karma-Lehre: selbst wenn man, gestützt auf die moderne Naturwissenschaft, erkennt, daß es gar keine menschlichen Rassen gibt (was übrigens einen unüberbrückbaren Widerspruch zurTheosophie schafft), aber an die Karma-Lehre glaubt, kommt der Faktor der "früheren Leben" bei der Betrachtung und Beurteilung politischer und historischer Vorgänge zum Tragen, und Rassismus und Sozialdarwinismus halten wieder Einzug. Denn ist es nicht auf die "früheren Leben" beispielsweise einer um 1840 in den USA geborenen Afrikanerin zuückzuführen, wenn sie als Sklavin die entsprechende Behandlung erfährt, wenn man an eine solche Lehre glaubt? Dies gilt auch, wenn man "die eher unreflektierten Interpretationen" der Theosophie zu diesem Thema zu modifizieren versucht, denn erstens sind sie keineswegs unreflektiert, und zweitens ist es unmöglich, ein Paradigma, und ein solches ist das "Gesetz des Karma", anzuerkennen und diejenigen Folgerungen abzuleugen, die einem nicht gefallen. Entweder man ersetzt ein Paradigma durch ein anderes, oder seine Folgen tauchen immer wieder auf.

Wenden wir das, was wir oben über die gesellschaftliche Funktion der Theosophie gesagt haben, auf Wicca an, so haben wir angesichts dieses Zitats wiederum Wicca als das Trojanische Pferd der Theosophie vor uns, nunmehr aber in doppelter Funktion. Das Trojanische Pferd steht für ein (Weihe-)Geschenk, das eine Streitmacht in sich trägt, die die Beschenkten vernichtet, wenn sie es arglos in ihre Stadt bringen. Diesen Prozeß vollzieht Wicca, wohlgemerkt ein Wicca, das in Abhängigkeit zur Theosophie steht, zunächst mit dem Einzelnen, der die "alte Religion" praktizieren will: zwar wird er oder sie nicht physisch vernichtet, aber selbst in die gesellschaftliche Reserve-Armee eingegliedert, die sich seit Aufkommen der Theosophie stets formiert, um bestimmte gesellschaftliche Veränderungen abzufangen. Dies ist die gesellschaftliche Dimension des Trojanischen Pferdes, und wir haben deutlich herausgestellt, daß dies sehr wohl ohne Wissen der Beteiligten vonstatten gehen kann.

3.2. Das Verhältnis zum Millennialismus

Hier wird, nach allem, was wir bislang über den Millennialismus ausgesagt haben, einer von Vivianne Crowleys Einwänden sehr bedeutsam, nämlich der, daß die Vorstellung einer immateriellen Existenz im Gegensatz zur physischen Wiedergeburt im modernen Wicca wenig beliebt ist, dies in zweierlei Hinsicht: erstens ist das Verhältnis zum Körper eins der Kriterien, an denen man den Millennialismus erkennt, und zweitens wegen des Details, diese Einstellung sei eine des modernen Wicca.

In der Einleitung ihres Buches, dessen Titel für uns hier sehr interessant ist, äußert Vivianne Crowley sich wie folgt: "Wie andere Religionen geht auch Wicca davon aus, daß es neben der materiellen Realität eine nicht-materielle Realität gibt, stellt aber die nichtmaterielle nicht über die materielle Realität und versucht nicht, die Welt der Materie oder die Abstufungen der Existenz zwischen Physischem und Göttlichem zu überwinden. Materie wird nicht mit Abscheu betrachtet und die Betonung liegt eher auf der Freude des Fleisches als der asketischen Verneinung des Fleisches als Ursprung der Sünde.(44)"

Diese Passage hat vermutlich den Zweck, die Vorstellungen von Wicca anhand derer des Christentums zu verdeutlichen und hier eine Abgrenzung vorzunehmen, eine Diskussion des Millennialismus findet im gesamten Buch nicht statt, was auch erstaunlich gewesen wäre, da sie bislang in bezug auf unsere Thematik noch nirgends geführt wurde. Vivianne Crowley wird also auch nicht die Absicht gehabt haben, Wicca vom Millennialismus abzugrenzen. Sie erteilt aber der klassisch millennialistischen Sichtweise des menschlichen Körpers eine klare Absage. Da aber die Art und Weise der Wahrnehmung des menschlichen Körpers engstens mit dem Verhältnis zur Gesellschaft zusammenhängt, wie Mary Douglas uns in ihrer Erläuterung des Millenialismus klargemacht hat - diese Entsprechung, die bei weitem aussagefähiger ist als hier bisher gezeigt wurde(45), wird uns in diesem Projekt noch sehr hilfreich sein - kann von einer totalen Ablehnung von Gesellschaft im Wicca keine Rede sein. Auch hier wird der Millennialismus implizit negiert. Das ist erfreulich, denn ist der Millennialismus im Wicca unnötig und unerwünscht, kann man auch die Theosophie insgesamt bzw. all ihre sonstigen Merkmale quasi-chirurgisch entfernen.

Es gibt bei Vivianne Crowley auch eine Äußerung betreffs des Neuen Zeitalters: "Als Ausübende von Wicca, als Priester, Priesterinnen und Hexen, muß es unsere Aufgabe sein, den Glauben unserer Vorfahren zu rehabilitieren und die Wahrheit und Schönheit des Heidentums auch durch die Dunkelheit der Mißverständnisse anderer erstrahlen zu lassen. Dann kann Wicca seinen wahren und einzigartigen Platz unter den Religionen und philosophischen Systemen von heute einnehmen, ein Bindeglied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - die Alte Religion im Neuen Zeitalter.(46)" Da die Äußerung in bezug auf die Definition des Neuen Zeitalters nicht sonderlich klar ist und nur an anderer Stelle durch einige nicht sehr vielsagende Bemerkungen über Wicca im Wassermann-Zeitalter(47) ergänzt wird, ist es nicht leicht, Vorstellung und Stellenwert des Neuen Zeitalters im Wicca hier herauszuarbeiten. Dies aber ist an und für sich ein Indiz: es scheint fast so, als erwähne Vivianne Crowley das Neue Zeitalter nur, weil man das eben tut: ein Umgang mit der Thematik, wie man ihn im Millennialismus nicht finden wird. Selbst im Christentum, dessen Geschichte als permanenter Distanzierungsprozeß vom ursprünglichen Millennialismus gesehen werden kann, sagt jeder Christ bei jedem Vater-Unser: "Dein Reich komme" und "Dein ist das Reich", außerdem bringt es ständig millennialistische Gruppen hervor, was für die Dauerhaftigkeit ursprünglicher Kernelemente spricht. Bei unserer Quelle hingegen hat man den Eindruck, das Neue Zeitalter sei eine Art Rudiment, man möchte fast sagen: ein religiöser Appendix.

Dies bringt uns allerdings zu unserem oben herausgestellten Detail zurück: wir haben hier insgesamt die Sichtweise des modernen Wicca vor uns. Da die Karma-Lehre offenbar im modernen Wicca Modifikationsversuche erfährt - die aber, wie wir gesehen haben, zur Erfolglosigkeit verdammt sind - ist es sehr wohl möglich, daß das Neue Zeitalter erst in neuerer Zeit zum Rudiment geworden ist: Karma-Lehre und die Lehre vom Neuen Zeitalter stammen beide aus der Theosophie, wobei zu erwähnen ist, daß Vivianne Crowley dies in bezug auf die Lehre vom Neuen Zeitalter nicht sagt. Der durch die Zitate belegte Umgang mit beiden Themen deutet auf einen Veränderungsprozeß hin, der offenbar durch inneren Dissens ausgelöst wurde. Es muß wohl Schwierigkeiten dabei gegeben haben, der jüngeren Generation die aus der Theosophie stammenden Lehren zu vermitteln. Die Modifikationsversuche an der Karma-Lehre zeigen aber, daß die jüngere Generation die Probleme nicht erkannt hat und sich lediglich an den Symptomen stieß. Hier wird auch das Verschweigen der Wurzelrassenlehre verständlich, denn vor wem wird sie verschwiegen? "Wicca - Die alte Religion im Neuen Zeitalter" ist ein Buch für Wicca, das hauptsächlich religiöse und rituelle Praktiken beschreibt - deren öffentliche Analyse wir übrigens nur im Falle der Beweisnot vornehmen werden, und zwar aus gebotenem Respekt vor der Religion derjenigen, deren naturreligiöse Intention dies gebietet. Die Wurzelrassenlehre wird also nicht vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern vor den Wicca, zumindest vor der jüngeren Generation, und dies ist mehr als alles andere Anlaß zum Optimismus. Sie müßte nämlich nicht verschwiegen werden, wenn nicht mit heftigem Dissens gerechnet werden müßte. Auch wenn Wicca völlig frei wäre von der Wurzelrassenlehre, müßte sie nicht verschwiegen werden, es wäre dann sogar sinnvoll, sie ausführlich zu referieren, damit klar wird, daß man ihr nicht anhängt. Hier kommen wieder die strukturellen Merkmale ins Spiel: es ist klar, daß Vivianne Crowley von der Wurzelrassenlehre weiß. Sie dürfte jedoch einen sehr hohen Rang innehaben. Also verschweigt die Spitze der Wicca-Hierarchie die Wurzelrassenlehre vor der Basis.

3.3. Zur Auflösung der Widersprüche

Bezüglich Wicca als Revitalisierungsbewegung wollen wir uns kurz fassen, da wir in "Wicca - das trojanische Pferd der Theosophie" bereits die unhaltbaren Geschichtsprojektionen behandelt haben, auf die Wicca sich beruft. Festzustellen ist aber eine klare Intention: man will eine Revitalisierungsbewegung sein. Wir haben bereits festgestellt, daß es hier zwei Hauptkritikpunkte gibt, die zusammenhängen, nämlich die Idee der "alten Universalreligion" und den hiervon abgeleiteten Anspruch, diese zu vertreten. Auch dies sind Merkmale der Theosophie, wenn auch im Wicca eine andere "Universalreligion" postuliert wird als dort. Vivianne Crowley spricht von "der Alten Religion", wenn sie über Wicca spricht, ist aber recht vorsichtig, was universelle Ansprüche angeht: sie berichtet lediglich über Europa und den Nahen Osten. In diesem Raum aber postuliert sie die "dreifache Göttin" und den "dualen Gott(48)". Alle anderen Äußerungen über die alte nord-und mitteleuropäische Geschichte(49) wirken vor allem hoffnungslos veralteten Quellen entnommen, so geistern dort wieder einmal die "blonden indogermanischen Pferde- und Rinderhirten(50)" herum, ebenso die Kelten(51), bei welchen der Übersetzer das englische Wort race peinlicherweise mit "Rasse" übersetzt hat: da sonst rassische oder rassistische Bemerkungen gänzlich fehlen, wird eine solche nicht intendiert gewesen sein.

Wir werden auf dieses Thema möglicherweise noch ein andermal zurückkommen, wollen aber hier den Willen für die Tat nehmen, also die Intention, eine Revitalisierungsbewegung zu sein, ernstnehmen. Daß hier eine Menge Arbeit zu tun ist und einige Vorstellungen dringend revidiert werden müssen, haben wir bereits gesagt(52). Da die hier und im vorangegangen Artikel kurz referierten, vom heutigen Standpunkt aus unhaltbaren historischen Darstellungen eben in erster Linie veraltet sind, liegt es nahe, zu vermuten, daß sie zu einem Zeitpunkt in Wicca übernommen wurden, als sie noch einigermaßen aktuell waren. Rassistisch sind sie, wie gesagt, nicht.

Wir haben diese gesamte Untersuchung vorgenommen, um folgende zwei Widersprüche im Wicca aufzulösen: erstens den Antagonismus von Naturreligion und Theosophie, den wir jetzt auf einer anderen Ebene als Antagonismus von Revitalisierungsbewegung und rassistischem Millennialismus fassen können, und zweitens den Widerspruch zwischen dem feministischen, ökologischen und sozial-emanzipatorischen Selbstverständnis zumindest einer erheblichen Anzahl von Wicca und dem Vorhandensein theosophischer Elemente im Wicca, die rechtsextremistische und rassistische Elemente sind.

Der Schlüssel zum ersten Widerspruch ist, daß sich auch hier rassistischer Millennialismus und Revitalisierungsbewegung vermischt haben. Der Widerspruch entsteht durch die Vermischung: Millennialismus und Revitalisierungsbewegung weisen fundamentale Gegensätze auf. Dazu kommt, daß die Theosophie ein Millenialismus ist, für den sein ins Kosmische übertragene Rassismus und seine Karma-Lehre zentral und paradigmatisch sind. Solange also nicht sämtliche Elemente der Theosophie restlos aus Wicca entfernt worden sind, bleibt der Widerspruch bestehen: Paradigmen sind nur durch andere Paradigmen zu ersetzen, ebenso wie Strukturen, die bekanntlich mit Inhalten in Wechselwirkung treten.

Der zweite Widerspruch entspringt dem ersten und dürfte beim verstärkten Aufkommen neuheidnischer Aktivität gegen Ende der Siebziger Jahre entstanden sein: wir haben Spuren einer Auseinandersetzung gefunden, die auschließlich um - und seitens der jüngeren Generation: gegen - die aus der Theosophie stammenden Elemente geführt wurde. Die Wicca-Führung verschweigt die Wurzelrassenlehre vor der Wicca-Basis, und dieser ist es bislang nicht gelungen, das zentrale Problem ausfindig zu machen, das all die ärgerlichen und mißliebigen Erscheinungen hervorbringt. Dieses Problem ist die Theosophie. Die herkömmliche hierarchische Covenstruktur und die Einweihungspyramide schützen die Theosophie im Wicca vor Entlarvung als das, was sie ist. Umgekehrt bedarf Wicca in seiner jetzigen Form aufgrund des Gesetzes der strukturellen Übereinstimmung einer Vorstellung eines stufenförmig gegliederten Kosmos, da dieser die Coven - Hierarche wiederspiegelt. Wer die alte Struktur beibehalten, aber auch alle zum Rassismus hinführenden Elemente aus der Religion entfernen will, wird feststellen, daß nur eins von beiden möglich ist. Haben wir hier das Dilemma zumindest eines Teils der jüngeren Wicca-Führung entdeckt? Die Auseinandersetzung im Wicca macht jedenfalls klar, daß die jüngere Generation einer naturreligiösen Revitalisierungsbewegung und keinem rassistischen Millennialismus angehören will. Der zweite Widerspruch erklärt sich also durch Unwisenheit der Mehrheit der Wicca bezüglich der Auswirkungen der Theosophie auf und in ihrer Religion, so wie sie zum jetzigen Zeitpunkt beschaffen ist.

Auch auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene gehören kulturkritische Revitalisierungsbewegung und rassistischer Millennialismus in antagonistische Lager. Wir haben die gesellschaftliche Funktion der Theosophie aufgezeigt. In beiden Lagern gleichzeitig zu stehen ist unmöglich.

Eine regelrechte Auflösung der Widersprüche ist ebenfalls unmöglich. Sie sind Antagonismen: Wicca wird zukünftig entweder im verborgenen Kern theosophisch sein - und wir haben andernorts gesehen, daß zumindest die Ariosophen Modelle mit "esoterischem" Kern und "exoterischen" Außenschichten sehr schätzen - oder unter Beseitigung der Theosophie eine echte Naturreligion werden.

4. Ausblick

Die Tatsache, daß die Wurzelrassenlehre vor der Wicca-Basis verschwiegen wird sowie unsere Folgerung, daß sie verschwiegen werden muß, und schließlich der Umstand, daß andere millennialistische Elemente bereits heftig kritisiert und zurückgedrängt werden, sind Anlaß zu Optimismus. Die Theosophie im Wicca ist nämlich auf die Duldung durch die Wicca-Basis angewiesen, denn die Leitung kann gegen den Willen der Basis überhaupt nichts ausrichten. Der Einzelne hat als Dissident innerhalb solcher Strukturen, wie wir gezeigt haben, keine Chance außer der, mit heiler Haut davonzukommen. Ganz anders sieht es aus, wenn die Mehrheit an der Basis sich entschließt, etwas zu fordern. Eventuell - und diese Möglichkeit haben wir entdeckt - würde man feststellen, daß zumindest einige Covenleiter und Angehörige der Wicca-Prominenz eine gründliche Reform begrüßen. Vor der Reform muß allerdings die Erkenntnis einsetzen, und zwar vorrangig eine Erkenntnis der Theosophie.

Wir haben hier mehrmals das antagonistische Verhältnis von Theosophie und Naturreligion aufgezeigt53. Die Theosophie hat ganz offensichtlich in einer Naturreligion nichts verloren. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, darauf hinzuweisen, daß seitens der Heidenszene seit erstmaliger Publikation der diesbezüglichen Argumente nicht ein einziges Mal versucht wurde, dieser doch recht zentralen These zu widersprechen, insbesondere da sich die theosophischen Elemente ihrer Lehren nicht wegleugnen lassen - außer natürlich auf der Basis bloßer Behauptungen. Im Wicca wird der zentrale Einfluß der Theosophie immerhin zugegeben, ebenso der letztlich moderne Charakter einer Religion, die sich auf alte Religionen beruft und somit in der Nachfolge dieser Religionen steht - eine erfrischende Ehrlichkeit im Gegensatz zu den Überlieferungslegenden (um sie der Höflichkeit halber so zu nennen), die man ansonsten in der Heidenszene antrifft. Es ist bezeichnend, daß jene, die sich dort oft und gern als eingeweihte religiöse Führer gebärden, offenbar kein einziges Argument finden können, um ihre angeblich authentischen, althergebrachten Lehren zu verteidigen - wobei allerdings das Vorhandensein der theosophischen Elemente an und für sich ein recht bezeichnendes Licht auf den "authentischen" und "altüberlieferten" Charakter dieser Lehren wirft.

Die Führer der Heidenszene schweigen zu Untersuchungsergebnissen, die von ihrer Selbstdarstellung nichts übriglassen. Diesbezüglich haben die Juristen einen Leitspruch: qui tacet consentire videtur; zu deutsch: wer schweigt, stimmt zu.

Bisher sind die kritischen Wicca lediglich abgewandert. Ich möchte hier die Bemerkung einflechten, daß es vor allem einige von diesen waren, die mich sowohl durch ihre Erzählungen als auch als Personen stark beeindruckt und inspiriert haben, dies insbesondere durch ihre tief empfundene Religiosität und Integrität, die so gar nichts mit den Pappkameraden gemein hat, die die öffentliche Diskussion als Zielscheibe für öffentlichen Spott und Haß aufbaut.

Gerade die öffentliche Diskussion wird beim momentanen Stand der Dinge nichts Konstruktives zur Lösung der anstehenden Probleme beitragen. Eine solche Motivation besteht dort auch gar nicht. Entweder man spielt dort das wahrlich uralte Gesellschafts-Spiel "Die lustige Jagd auf den Außenseiter" oder man will, aus welchen Gründen auch immer, keine religiöse Erneuerungsbewegung dulden. Auch das ist nicht neu. In diesem Fall ist es aber sinnlos. In anderen europäischen Ländern und den USA sind Naturreligionen längst keine Randgruppen mehr, und das Zusammenwachsen der europäischen Gemeinschaft wird diesen Zustand auch in Deutschland beseitigen. Es stellt sich lediglich die Frage, was zu diesem Zeitpunkt unter dem Namen "Heidentum" in Deutschland - und anderswo - praktiziert werden wird. Das entscheidet sich jetzt, und die Kommentare der öffentlichen Diskussion - bis auf die hier deutlich hervorgehobene Ausnahme - haben bislang lediglich dazu beigetragen, die theosophisch und ariosophisch geprägten Zustände in der Heidenszene zu zementieren.

Was nun die zwei Widersprüche im Wicca angeht, so liegt es im Grunde bei jedem einzelnen Anhänger dieser Religion, was jetzt geschieht. Hier, im Ariosophieprojekt, kann nicht mehr getan werden, als Untersuchungen durchzuführen. Mehr wäre auch nicht angebracht, denn was Wicca ist, muß in den Händen der Wicca liegen und bei niemandem sonst.


Fußnoten:

1 Schrupp, A.: Die Neuheiden, Frankfurt am Main 1997, Reihe FORUM, Heft 11, Verlag: Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik e.V.
2 Hundseder, F.: Wotans Jünger, München 1988 (Heyne)
3 s. ebd., S.127
4 ebd., S.7f.
5 Vivelo, Robert Frank: Handbuch der Kulturanthropologie, Stuttgart 1995 (2. Aufl.) S. 225
6 s. "Anmerkungen zum Thema Mythos"
7 s. Anm. 5
8 Vivelo, Handbuch... S. 264f.
9 s. "Anmerkungen zum Thema Mythos"
10 Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main 1986
11 Lévi-Strass, Claude: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt am Main 1971
12 Vivelo, Handbuch... S. 271 f.
13 Douglas, Ritual, Tabu... S. 162f.
14 Hundseder, F.: Wotans Jünger, S. 138ff.
15 Schrupp, A.: Die Neuheiden, S. 32
16 Douglas,: Ritual, Tabu..., S. 152
17 Schnurbein, Stefanie von: Religion als Kulturkritik. Neugermanisches Heidentum im 20. Jahrhundert. Heidelberg 1992, S. 83; siehe auch "Ariosophie - ein Überblick"
18 s. "Ariosophie - ein Überblick" und "Anmerkungen zum Thema Mythos"
19 Deschner, K.-H.: Der Moloch. eine kritische Geschichte der USA. München 1995 (2. Aufl.), S. 67
20 s. ebd., S.69
21 Biegert, Klaus: Die Sioux heute, in: Hassrick, R.B.: Das Buch der Sioux, Augsburg 1992, S. 337 ff. Angemerkt sei, daß Hassricks Haupttext einige Merkwürdigkeiten enthält und daher eine Zurateziehung anderer anthropologischer Literatur angeraten ist.
22 Blavatzki, H.P.: Die Geheimlehre, Band 2, zitiert nach: Bellmund/Siniveer: Kulte, Führer, Lichtgestalten. Esoterik als Mittel rechtsradikaler Propaganda. München 1997, S. 26
23 Deschner, Der Moloch, S. 138
24 ebd, S.105
25 ebd., S. 146 ff.
26 s. "Ariosophie - ein Überblick" und "Anmerkungen zum Thema Mythos"
27 Schnurbein, Religion als Kulturkritik, S. 90
28 s. ebd., S. 99
29 Blavatzki, Die Stimme, ziert nach: Bellmund/Siniveer: Kulte Führer, Lichtgestalten, S. 29
30 s. "Ariosophie - ein Überblick"
31 List, G.: Das Geheimnis der Runen, Leipzig 1912 (2. Aufl.) S. 75f.
32 s. ebd, unter "Weihe", vor Beginn der Seitenzählung
33 Bellmund/Siniveer: Kulte, Führer, Lichtgestalten, S. 27
34 Rudolph, H.: Der Pfad der Selbsterkenntnis, Leipzig 1920, zitertnach. Bellmund/Siniveer: Kulte, Führer, Lichtgestalten, S. 29
35 List, G.: Das Geheimnis der Runen, S. 67
36 Vivelo, Handbuch, S. 332
37 Deschner, K.-H.: Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte. 1. Aufl. der TB-Ausg. 1996, ohne Erscheinungsort (Bertelsmann), S. 26f.
38 ebd, S. 29ff.
39 Douglas, M.: Ritual, Tabu...S. 8f.
40 s, "Anmerkungen zum Thema Mythos"
41 s. Anm. 40
42 Schnurbein, Religion als Kulturkritik, S.1
43 Crowley, Vivianne: Die alte Religion im Neuen Zeitalter, Bad Ischl 1993, S.45
44 s. ebd., S. 13f.
45 Douglas, M.: Ritual, Tabu...S. 99ff.
46 Crowley, V.: Wicca, S. 52
47 s. ebd., S. 249
48 s. ebd., S. 22ff.
49 s. ebd.
50 ebd., s.23
51 ebd., S. 23f.
52 s. "Wicca - das Trojanische Pferd der Theosophie"
53 s. "Anmerkungen zum Thema Mythos"

Zurück zum Anfang

<< | Liste Nach Autoren | >>

Mitglied im Rabenclan e.V. werden

Mitglied im Rabenclan werden?
Aktiv den Verein mitgestalten, neue Menschen kennenlernen, interne Rundbriefe erhalten, regionale Angebote nutzen, ermäßigte Teilnahme an den Veranstaltungen - wir freuen uns auf Euch!
Weitere Informationen und einen Mitgliedsantrag findet Ihr hier

News

Bücherspiegel 2016
Neue englischsprachige Monografie über (neo-)germanisches Heidentum von Stefanie von Schnurbein erschienen. Der Rabenclan wird rund ein dutzend Mal erwähnt. Mehr Informationen hier.

Kulturhistorische Beiträge

Óskmejyar Teil 1 - Die Walküren in der Helgaquiða Hundingsbana I (von Hans Schuhmacher)
Thesen zur Germanischen Frau (von Hans Schuhmacher)
Die unbekannte Tradition: Slawisches Heidentum(von Anna Kühne)

Übrigens:

Die Filtersoftware der Firma Symantec blockiert unsere Adresse.

Begründung:

Der Rabenclan verbreite jugendgefährdendes Material über Okkultismus und New Age. Wer einen Kommentar an Symatec schreiben mag, folge diesem Link: