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Hans Schumacher Islam
28.04.2017, 09:55

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Anmerkungen zum Thema Islam

von Hans Schumacher, im Namen und Auftrag des Rabenclan - Arbeitskreis für Heiden in Deutschland e.V.
- Alle Rechte beim Autor -

Weitere Artikel:

Exkurs 1: Der Islam - eine kleine Einführung

Exkurs 2: Die islamische Auslegungskultur

Exkurs 3: Der Islam und die Frauen

Exkurs 4: Vom Unsinn der Unterscheidung zwischen "Gemäßigten" und "Fundamentalisten"

Voraus

Die Beschäftigung mit dem Islam bzw. mit der Feindseligkeit gegen diesen gehört an und für sich nicht in den Rahmen dieses Projektes, das sich bekanntlich mit kosmologisch-pseudoreligösem Rassismus befasst. Da wir aber immer wieder gesehen haben, dass man sich weder der Ariosophie noch der Theosophie in angemessener Weise widmen kann, ohne auf eine Vielzahl mehr oder weniger benachbarter Themen einzugehen, weiterhin der Gesichtskreis des Projekts sich im Laufe der Zeit, den Notwendigkeiten der Untersuchung folgend, ständig in immer weitere soziale, kulturelle und historische Bereiche hinein erweitert hat1, liegt die Beschäftigung mit der Feindseligkeit gegenüber dem Islam insofern nahe, als sie in Deutschland und überhaupt in der christlich-abendländischen Welt sich hauptsächlich als Fremdenfeindlichkeit äußert - ein Begriff, der noch auf seine Wertigkeit abzuklopfen sein wird. Diese Fremdenfeindlichkeit ist aber in jedem Fall zu unserem Thema gehörig, da sich als solche Rassismus manifestiert. Zumindest liegt also der Verdacht nahe, dass sich bei der Fremdenfeindlichkeit, äußert sie sich gegenüber Muslimen -oder doch gegenüber Menschen, die für Muslime gehalten werden; auch dem wird nachzugehen sein - Feindseligkeit aufgrund von Abstammung, ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe, Habitus (Rassismus) vermischt mit Feindseligkeit aufgrund von Religionszugehörigkeit. Selbst in dieser Aufzählung tauchen bereits Probleme auf: gehört Feindseligkeit aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit und/oder Habitus nicht auch in den Bereich Feindseligkeit gegenüber anderen Kulturen? Ist nicht im Falle des Antisemitismus Feindseligkeit aufgrund von Religionszugehörigkeit als Rassismus aufgetreten? Wir sehen, dass die Beschäftigung mit dem Thema auch aufgrund der theoretischen Probleme, die es aufwirft, durchaus lohnt. Weiterhin, und das wiegt am schwersten: neofaschistische Gruppierungen und andere Rassisten werden die Gunst der Stunde nach den terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September dieses Jahres nutzen, um ihre Positionen aufzuwerten und ihre Stärke auszubauen. Weiterhin kann man getrost davon ausgehen, dass sowohl dem gewalttätigen Neonazi als auch dem von ihm Überfallenen unsere theoretischen Probleme höchst gleichgültig sind, wir uns aber im Kampf gegen derlei Geschehen und die dazugehörigen Ursachen befindlich begreifen. Eine Beschäftigung mit dem Thema ist also gerechtfertigt.

Einleitung

Direkt nach den oben angeführten terroristischen Angriffen trat eine äußerst feindselige Grundhaltung gegenüber "den Moslems" in der gesamten christlich-abendländischen Welt zutage2. Quasi von Anfang an kam es zu pauschalen Vorverurteilungen, ferner wurde von Anfang an von einem Angriff auf "die Zivilisation" gesprochen und Solidarität mit den beklagenswerten, in jeder Hinsicht unschuldigen Opfern gleichgesetzt mit Solidarität mit dem Staat USA ("Solidarität mit Amerika"). All das hat uns hier zu interessieren.

Sodann werden wir uns bemühen, der Feindseligkeit gegenüber dem Islam auf die Spur zu kommen.

1. Die Vorverurteilung, "die Zivilisation",

"Solidarität mit Amerika"

Vor allem in den ersten Stunden standen die Weltreligion Islam und die Einschläge der Flugzeuge in keinem rational erkennbaren, geschweige denn zwingenden Zusammenhang. Dies bedarf der Erläuterung. Brennt ein Asylantenheim und findet man am Ort des Geschehens Hakenkreuzschmierereien, so besteht ein rational erkennbarer Zusammenhang zwischen der Tat und rassistisch-neofaschistischen Tätern. Sieht man die Täter oder kann ihnen die Tat auf andere Weise nachweisen, wird der Zusammenhang zwingend. Brennt das Gebäude aber ohne jegliche Anhaltspunkte auf irgendwelche Täter, liegt zwar der Verdacht eines neofaschistischen Angriffs nahe, aber ein Verdacht ist kein Beweis. Verwischt man diesen Unterschied, gerät man in die Logik der Hexenprozesse. Im Falle der Selbstmordattentäter wurden zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt Täter namhaft gemacht, die in der Tat Muslime waren, aber die Vorverurteilung war in keiner Weise gerechtfertigt.

Nun besteht aber zwischen dem Fall des hier hypothetischen Asylantenheims im Zusammenhang mit Rassisten und den Anschlägen im Zusammenhang mit "den Moslems" ein äußerst gravierender Unterschied. Alle Faschisten, Neonazis, Rassisten und so fort definieren sich eben durch Feindseligkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen, jede einzelne Ideologie dieses Bereichs weist dieses Element auf3. Weiterhin lassen es weder die Ideologien noch die Gruppierungen bei der bloßen Feindseligkeit bewenden, sondern diffamieren, lügen, fälschen und sind bemüht, diese Feindseligkeit zu verbreiten. Bekanntlich ist die Folge stets Gewalt in irgend einer Form, und es mag zwar ein formaljuristischer Unterschied bestehen zwischen dem Neofaschisten, der schlägt, tritt und/oder zündelt, und dem, der dies anderen überlässt, schuldig sind sie alle. Der Islam hingegen ist eine Religion, dem eine feindselige Haltung dem christlichen Abendland gegenüber zwar mancherorts unterstellt wird - worauf wir noch zu sprechen kommen werden - aber zunächst einmal besteht überhaupt kein Zusammenhang zwischen dem Islam als Religion und den Anschlägen. Wenn in den USA ein christlicher Sektenführer Menschen tötet oder zur Selbsttötung veranlasst - siehe zum Beispiel der Massenselbstmord in Zusammenhang mit Reverend Jim Jones in Guayana - besteht überhaupt kein Zusammenhang zwischen dem Ereignis und dem Christentum: das Christentum als Religion ruft nicht zum Massenselbstmord auf. Ebenso wenig ruft der Islam als Religion zum Terrorismus auf. Und dies ist der gravierende Unterschied zwischen unseren beiden Beispielen: dem Rassismus sind Feindseligkeit gegenüber bestimmten Menschengruppen und Aufruf zur Gewalt immanent, dem Islam sind sie es nicht. Dies ist selbstverständlich keineswegs der einzige Unterschied (auch hierauf werden wir noch zu sprechen kommen), hier geht es in erster Linie darum, festzustellen, dass die pauschale Vorverurteilung gegenüber "den Moslems" sachlich durch nichts gerechtfertigt war. War sie aber nicht sachlich begründet, hatte sie andere Ursachen, und denen werden wir nachzugehen haben.

Der ernsthafte Diskussionen immer weiter überlagernde Populismus findet hier leicht einen Einwand, nämlich den, dass ja auch im Vorfeld Terroristen islamischen Glaubens Anschläge in den USA verübt hätten und daher ein Verdacht (denn als solcher wird eine Vorverurteilung im Nachhinein gern dargestellt) gerechtfertigt gewesen wäre. Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, dass auf dem Boden der USA durchaus auch Terroristen Anschläge verübt hatten, die keineswegs islamischen Glaubens gewesen waren, zum Beispiel weiße amerikanische Rassisten im Falle der Olympischen Spiele von Atlanta. Wie man sich in der christlich-abendländischen Welt einen Terroristen vorstellt, hat also mit dem breiten Spektrum tatsächlicher Terroristen wenig zu tun. Nahezu lächerlich war es schon, als ein Fernsehbild um die Welt ging, das zeigte, wie ein dunkelhäutiger Mann mit Bart und Turban in den USA unter Jubel der Umstehenden von zahlreichen Ordnungshütern abgeführt wurde: der Mann war, laut Peter Scholl-Latour, ein Sikh, also nicht einmal ein Moslem. Die Assoziationskette Bart-Turban-Schuld ist als solche lächerlich, das sich so offenbarende kollektive Denken ist es aber keineswegs. Schemata solchen Denkens ist unser Projekt nämlich gewidmet.

Ein Angriff auf "die Zivilisation" habe stattgefunden, sagte man uns. Da eine Definition unterblieb, dies aber immer wieder zu hören war, müssen wir uns fragen, was denn gemeint war. Faktisch angegriffen wurden Gebäude und die Menschen in ihrem Inneren: Sekretärinnen, Büroboten, Angestellte. An dieser Stelle sei klar und deutlich gesagt, dass kein politisches oder sonstiges Ziel dergleichen rechtfertigt, im Gegenteil: Ziele und dahinterstehende Ideengebäude gleich welcher Art werden durch das absichtliche Töten Unschuldiger disqualifiziert. Und auch das sei gesagt: ein Feuerwehrmann, der Leib und Leben für Fremde riskiert, wie es Hunderte der New Yorker Feuerwehrleute taten, ist tausendmal mutiger als jeder Terrorist gleich welcher Art. Hier und jetzt angesichts der Toten und Hinterbliebenen eine Untersuchung über Begrifflichkeiten und Denkmodelle anzustellen, mag zynisch und herzlos erscheinen. Ich bin aber der Meinung, dass die Suche nach der Wahrheit der einzige Weg ist, den Sumpf trockenzulegen, aus dem die Gewalt gegen völlig unschuldige Menschen immer wieder hervorgekrochen kommt. In einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen millenialistischen Heilserwartungen 4 gleich welcher Art hingeben (ich zähle den Neoliberalismus übrigens durchaus dazu und hoffe, noch Gelegenheit zu finden, dies auszuführen), die öffentliche Meinung zunehmend in die Verfügungsgewalt von Privatpersonen fällt und, wie wir ja gesehen haben bzw. womöglich noch sehen werden, ein einzelner Vorfall eine Katastrophe globalen Ausmaßes nach sich ziehen kann (was unseligerweise dem Millenialismus noch mehr Schubkraft verleiht), mag es in der Tat lächerlich erscheinen, in langwieriger Kleinarbeit aus Bruchstücken Thesen und Theorien herauszuschmelzen, anstatt sich einfach mit dem Strom treiben zu lassen. Sei's drum.

Unsere Frage muss nunmehr lauten, was denn mit "der Zivilisation" gemeint war und ist. Der Angriff war aufgrund des Charakters der getroffenen Gebäude wohl gegen den Staat USA und/oder, dies in zweiter Linie, die kapitalistische Weltwirtschaft gerichtet. Nun wird man es kaum erleben, dass ein US-amerikanischer Sprecher die USA als "die Zivilisation" bezeichnet und mithin dem Rest der Welt den Status der Barbarei zuweist - das Gegensatzpaar wurde immerhin gebraucht. Wir müssen also versuchen, Barbarei und Zivilisation im Sinne des Gesagten durch Ableitungen zu verorten.

Ein Interpretationsversuch: der christlich-abendländische Kulturkreis bezeichnet sich als "die Zivilisation" und weist dem Rest der Welt den Zustand der Barbarei zu. Ein solches Denken ist ja durchaus vorhanden und wäre die konsequente Ableitung aus dem Barbareibegriff, wie er ursprünglich beschaffen war. Die hellenischen Sklavenhalter-Stadtstaaten betrachteten sich ihrer Zeit durchaus als "die Zivilisation" und den Rest der Menschheit als "barbaroi", solche, die nicht richtig sprechen konnten: sie sprachen nicht griechisch. In diesem Fall würde die globale Vermittlung amerikanischer Werte durch weltweit ausgestrahltes Fernsehen, das Aufzwingen bestimmter Wirtschaftsformen, die Ausbreitung des euro-amerikanischen Habitus (Kleidung, Haartracht, Sprache und so weiter) zuungunsten angestammter Werte, Wirtschaftsform, Habitus als Prozess der Zivilisierung begriffen - auch ein solches Denken ist weder neu noch unbekannt. Wer sich also individuell oder kollektiv um eine Nachahmung christlich-abendländischer Wirtschafts-, Lebens- und Denkweise bemüht, tritt aus der Barbarei in die Zivilisation über. Wer sich nicht solcherart bemüht, ist und bleibt ein Barbar. Hierdurch entstünde ein Modell konzentrischer Kreise, wobei Nähe zum, respektive Ferne vom Zentrum durch unterschiedliche Intensität und unterschiedlichen Erfolg der Nachahmungsbemühungen markiert würden. Derartige Modelle kennen wir bereits aus unseren ersten Untersuchungen und wissen daher, dass sie ein Zentrum und eine äußerste Peripherie aufweisen. Liegt solches hier vor?

Offenbar tut es das. Die kritiklose Übernahme amerikanischer Ideen und Theorien sowie nahezu allem US-Amerikanischen bis hin zur Terminologie (dem "Denglisch" der Betriebswirte und modernen Wirtschaftszweige) sowohl in der Hauptkultur als auch in allen Subkulturen (Musik, Habitus) in Europa, besonders in Deutschland, legt ein in der Anthropologie oft beobachtetes Modell nahe: eine als überlegen angesehene Kultur wird kopiert. Das Zentrum sind also die USA, genauer: das Bild der USA. Die Lebensrealität großer Bevölkerungsschichten in den USA weicht vom in den Medien vermittelten Bild nämlich stark ab. Die äußerste Peripherie sind diejenigen Kulturen und Staaten, die sich der Nachahmung nicht nur verweigern, sondern sogar gegen die USA Position beziehen. Was dort im Einzelnen gedacht und gesagt wird, erfahren wir selten. Aber wir erfahren, wie man sie nennt: Schurkenstaaten. Barbaren und Schurken.

Dies ist ein Interpretationsversuch, da uns ja nicht mitgeteilt wurde, was wir unter "der Zivilisation" zu verstehen hätten, die angegriffen wurde. Interessanterweise hat auch niemand danach gefragt. Da uns jegliche Aussagen fehlen, müssen wir es vorerst beim Interpretationsversuch belassen, können diesen aber für eine wagemutige Hypothese nutzen. Nämlich: "die Moslems" wurden vorverurteilt nicht aufgrund vorheriger Terrorakte durch einzelne Muslime, sondern weil in diesem Modell ein Angriff auf das Zentrum nur von der äußersten Peripherie ausgehen kann: den Barbaren, den Schurken.

Erhärtet wird unsere Hypothese nicht nur durch das selektive Vergessen anderer Terroristen, sondern auch durch eine andere Beobachtung. Gehen wir davon aus, dass der durchschnittliche europäische Fernsehzuschauer weiß, was ein Bombenangriff ist, und sei es nur, dass er sich die Hollywoodvariante vorstellt. Solche Bombenangriffe wurden seitens der USA in den letzten Jahren gelegentlich vorgenommen, auch große Städte wurden angegriffen. Schweigeminuten für die Opfer gab es nicht. Warum nicht?

Im Rahmen unseres Modells macht es Sinn, dass in einem Fall den Toten solcherart gedacht wird, im anderen nicht. Die Opfer der US-Bomben sind weiter vom Zentrum entfernt als die Europäer, die Toten von New York sind ihm näher: sie befinden sich dort.

Auch die Assoziationskette Bart-Turban-Schuld passt in unser Modell. Bart und Turban sind der Habitus des Barbaren.

Halten wir vor allem fest, dass "die Zivilisation" keineswegs rational reagierte, sondern aufgrund eines interessanten Assoziationsmusters, das wir hier keineswegs wirklich erfasst, sondern lediglich gewissermaßen gewittert haben - es fehlt an erhärtendem Material. Wir werden dieser Angelegenheit in folgenden Untersuchungen aber dringend nachgehen müssen, und zwar aus folgendem Grund: allzu viel in diesem Assoziationsmuster erinnert allzu sehr an Dinge, die wir aus unserer Arbeit an Theosophie und Ariosophie nur allzu gut kennen. Wir hatten ja bereits auf die abbildungsmäßige Ähnlichkeit der Strukturen ariosophischer Gruppen mit denen der Gesamtgesellschaft verwiesen5 und sehen uns hier in vielerlei Hinsicht bestätigt.

Halten wir weiterhin fest, was wir als Hypothese postuliert haben: wenn sich "die Zivilisation" wie oben als Modell konzentrischer Kreise darstellen lässt, dann befinden sich "die Moslems" - womit hier ihr Klischeebild gemeint ist, nicht etwa die Realität des Islam! - an der Peripherie, und zwar aus folgenden Gründen:

Insgesamt muss man zu dem vorläufigen Schluss kommen, dass jene, die bang nach der Zukunft des kulturellen Nebeneinander zum Beispiel in Deutschland fragen, offenbar von der falschen Prämisse ausgehen, dieses Nebeneinander sei mehr gewesen als eine jederzeit widerrufbare Duldung "der Moslems" durch "die Deutschen."

Warum aus Mitgefühl mit den Opfern die "Solidarität mit Amerika" wurde, und zwar sofort, stellt nunmehr kein Rätsel mehr dar. Die gleiche Anzahl Tote in Ägypten, Korea, Indien zieht keine solche Solidarität mit der jeweiligen Gesellschaft nach sich, auch keine Schweigeminuten. Ägypten, Korea, Indien sind nicht das Zentrum "der Zivilisation".

2. Assoziationsketten versus Rationalität

Unsere Kritik an der Vorverurteilung "der Moslems" weicht von der üblichen Kritik ab. Diese wendete und wendet sich gegen unsachgemäße Pauschalverurteilungen, wendet sich quasi dagegen, die Schuldigen und die Unschuldigen in einen Topf zu werfen. Das ist immer angebracht und auf jeden Fall sehr viel höher zu bewerten als der ebenfalls sofort erschallende Schrei nach Vergeltung und Krieg. Es besteht ein feiner, jedoch wichtiger Unterschied zwischen der gängigen Kritik und unserer: die gängige Kritik unterscheidet zwischen schuldigen Muslimen (einer Minderheit) und unschuldigen Muslimen (der Mehrheit), wir aber sagen, dass die Anschläge mit dem Islam als Religion nichts zu tun haben. Einige islamische Sprecher sagten übrigens genau das6.

Im Falle der gängigen Kritik bleibt die Verkettung Muslime - Schuld bestehen, wird aber relativiert und differenziert. Wir trennen das eine vom anderen.

Kritik an und Besorgnis wegen eines sich anbahnenden militärischen Angriffs der USA auf einen oder mehrere Staaten, deren Bewohner mehrheitlich oder ausschließlich Muslime sind, welche auf der Argumentationsschiene schuldige Muslime - unschuldige Muslime aufbaut, übersieht diesen wesentlichen Punkt ebenso. Allerdings wird zurecht das Argument ins Feld geführt, dass auf jeden Fall wieder völlig Unschuldige sterben oder in anderer Form Schaden erleiden würden. Zwischen den Anschlägen, auch und gerade wenn sie von einem international agierenden Netzwerk ausgingen, und einem militärischen Angriff auf einen oder mehrere Staaten, angeblich zur Verhinderung weiterer solcher Angriffe, besteht kein rational fassbarer Zusammenhang. Zur Erläuterung: erstens ist ein militärischer Angriff auf einen Staat völlig untauglich, um sich darin befindliche Terroristen zu fangen. Zweitens, wenn man von einem international agierenden Netzwerk ausgeht, gibt es kein lokal festgelegtes "Hauptquartier" oder was auch immer, das man treffen kann. Drittens kann und will man ja gar nicht jeden Staat angreifen, in welchem das Netzwerk eventuell Mitglieder hat oder hatte: die USA müssten dann unter anderem Deutschland und sich selbst angreifen. Viertens wird der angerichtete Schaden auf jeden Fall eine Eskalation herbeiführen und damit das Problem verschlimmern, statt es zu lösen.

Zudem hört man eine politische Kritik, die bei den Wirtschafts- und Machtinteressen der USA im Nahen Osten ansetzt. In den Gesichtskreis dieser Kritik gehören die Willfährigkeit europäischer Politiker gegenüber den USA, frühere Fehlschläge militärischer Unternehmungen der USA und ihre Folgen, verschiedene kritische Positionen gegenüber dem amtierenden Präsidenten und seinem ideologischen Hintergrund, historische und Gegenwartsanalysen der Krisen und Probleme im in Rede stehenden Raum unter Einbeziehung der Rolle der USA und so weiter. Diese Kritik ist mit Sicherheit berechtigt, und was noch wichtiger ist: in den Demokratien, in denen diese Kritik laut wird, darf es nie dazu kommen, dass sie repressiv zum Verstummen gebracht wird, ganz gleich welche Gestalt die Repression annimmt. Ansätze in diese Richtung sind von allen Demokraten scharf zu verurteilen, ganz gleich ob sie der jeweiligen Kritik zustimmen oder nicht. Ansonsten gerät man nämlich letzten Endes dahin, dass ein einzelner antidemokratischer Terrorist mit einem einzigen Anschlag die Demokratie vernichten kann.

Diese politische Kritik ist allerdings nicht unser Thema, denn wir befassen uns mit Modellen des Denkens in Zusammenhang mit Strukturen. Wir haben gesehen, dass Theosophie und Ariosophie7, von einem rationalen Standpunkt aus betrachtet, in hohem Grade irrational sind und trotzdem Anhänger fanden und finden. Bei unseren Bemühungen, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, kamen wir zu den beunruhigenden Schluss, dass Rationalität keineswegs das entscheidende Kriterium bei der Annahme oder Ablehnung irgendwelcher Ideologien ist, sondern quasi Wiederspiegelungen gesellschaftlicher Realitäten in diesen Ideologien die entscheidende Rolle spielen. Von der Feststellung zwingender Beziehungen zwischen Struktur und Inhalt8 gelangten wir zu einem Analogie sozialer Konfigurationen mit Ideologien9 und fanden dabei maßgebliche Hilfe in den Arbeiten von Émile Durckheim und Mary Douglas 10. Wir machten uns mit dem Phänomen des Millenialismus vertraut, welcher die Rationalität vollends über Bord wirft, und stellten die immense Wirksamkeit dieses Phänomens in unserem Themenkreis fest11. Von der zornigen Frage: "Wie kann es denn sein, dass rassistische Klüngel sich erfrechen, ihren Alleinvertretungsanspruch auf Religionen zu behaupten, denen sie nicht einmal intellektuell gewachsen sind und die sie krass verfälschen? Und wie kann es denn sein, dass alle Welt sie auch noch darin bestätigt?12" kamen wir auf gewundenen Wegen schließlich dahin, die Bedingungen, die Bedingtheit und die Mechanik desjenigen Denkens zu untersuchen, das zum Rassismus führt.

Bei der hier sich spezifisch als Reaktion auf die Anschläge des 11. September manifestierenden Feindseligkeit gegenüber dem Islam sind wir bereits mehrmals auf Irrationalität gestoßen. Unser Modell "der Zivilisation" hat nichts mit Rationalität zu tun, ebenso wenig wie die Assoziationskette "Bart-Turban-Schuld". Wir müssen also fragen, ob die christlich-abendländische Zivilisation kollektiv nicht nur irrational reagierte, sondern ihr kollektives Denken generell bestimmt wird von einer Mechanik irrationaler Assoziationsketten, was den Selbstanspruch dieser Zivilisation, auf Rationalität zu gründen und deren Hüterin und Verbreiterin zu sein, ad absurdum führen würde.

Tatsächlich ist diese These der Wissenschaft weder neu noch unbekannt. In ihrer Einführung zu ihrem Werk "Wie Institutionen denken13" schreibt die uns bereits bekannte Mary Douglas: "Und wir werden zu dem Schluss gelangen, dass Individuen in Krisensituationen keine eigenen Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Wir können die These noch zuspitzen und sagen, dass individuelle Vernunft dieses Problem gar nicht zu lösen vermag. Eine Lösung wird nur dann als richtig empfunden, wenn sie mit dem institutionellen Denken übereinstimmt, das in den Köpfen der um eine Entscheidung ringenden Individuen bereits präsent ist."

Also war, so dürfen wir ableiten, "Bart-Turban-Schuld" als Teil eines "institutionellen Denkens" in den Köpfen vorhanden und wartete dort quasi auf seine Aktivierung: was wir gesehen haben, war die Manifestation einer Mechanik. Wir stehen also vor zwei Fragen, nämlich erstens: was ist dieses "institutionelle Denken", und zweitens: warum ist "Bart-Turban-Schuld" ein Teil davon? Die erste Frage hat derart weitreichende Konsequenzen für unsere gesamte Thematik, dass wir sie hier in diesem Kapitel lediglich durch kurze Einführung einiger von Douglas' Hauptthesen angehen können, die zweite ist die nach der wahren Natur der Feindseligkeit gegenüber dem Islam und damit Thema der folgenden Kapitel.

Douglas' Untersuchung betreffs der Nichtrationalität des Denkens und Handelns setzt bei der Untersuchung der Solidarität ein - was für uns ja aufgrund des Phänomens der "Solidarität mit Amerika" von Interesse ist. Wir wollen Douglas folgen und versuchen, gleichzeitig beim Thema zu bleiben, und unsere Untersuchung der Solidarität also anhand der "Solidarität mit Amerika" vornehmen.

"Das Individuum klärt, was in seinem Interesse liegt, und handelt entsprechend. So lautet die Grundlage jeder Theorie, auf der die Wirtschafts- und die Politikwissenschaft basieren, und dennoch haben wir den entgegengesetzten Eindruck. Wir sehen nämlich, dass Individuen auf höchst großzügige und offenbar uneigennützige Weise zum öffentlichen Wohl beitragen. Erweitert man nun die Bedeutung von "Eigennutz", bis es jedes denkbare uneigennützige Motiv umfasst, verliert die Theorie jeglichen Aussagewert.14" Wären Beiträge zum Gemeinwohl die einzigen Folgen institutionellen Denkens (im Gegensatz zur rationalen Wahl), könnten wir uns die gesamte Untersuchung sparen. Aber ebenso wie uneigennützige Beiträge zum Gemeinwohl erleben wir im christlichen Abendland jede Form von Gewalt gegenüber "Andersartigen", von der Hetze bis zum Angriff mit Tötungsabsicht, und zwar ohne dass ein individueller Nutzen für den Täter ersichtlich wäre. Jeder rassistische oder sonst wie fremdenfeindliche Gewalttäter steht nicht nur in einer Negativbeziehung zu seinen Opfern, sondern auch in einer Positivbeziehung zu etwas, womit er sich identifiziert und als dessen Feinde, Schädiger, Parasiten er seine Opfer identifiziert, sei das Objekt der Solidarität nun die "arische Rasse" oder "Amerika" - womit wir beide keineswegs gleichsetzen wollen; die Irrationalität sowie das Fehlen eines rational erkennbaren Nutzens für den Täter sind in beiden Fällen gleich, was auch immer das Objekt der solcherart zum Ausdruck gebrachten Solidarität sei. Tatsächlich muss ein rassistischer Gewalttäter sogar Schaden für seine Person einkalkulieren, nämlich Gefängnisstrafe - der Impuls der Solidarität wirkt aber offenbar stärker als die rationale Kalkulation der Folgen. Im Übrigen wäre künftighin zu fragen, ob rassistische Gewalttäter wirklich in erster Linie vom Hass getrieben werden oder vielleicht viel mehr von Solidarität - und diese Solidarität (zu wem? zu was? warum?) gälte es dann strengstens zu untersuchen, denn es macht Sinn, fehlgeleitete Solidarität umzulenken, wogegen man mit Hass nichts Konstruktives anstellen kann.

Zur Klarstellung wollen wir kurz einfügen, dass Solidarität keineswegs mit Nichtrationalität gleichzusetzen ist. Als rationale Solidarität können wir kurz diejenige kennzeichnen, in welcher ein Individuum rational mit einem Gleichgewicht zwischen seinen Beiträgen und seinem Nutzen rechnen kann - und ebenso kann es einen irrationalen Eigennutz geben, der jegliche Kooperation verwirft und dazu führt, dass das Individuum entweder jeglichen Aufgaben und Fährnissen allein gegenüber treten muss oder Kooperation erzwingt, zum Beispiel durch den Einsatz von Sklaven. Von "Amerika" ist eine ausgleichende Gegengabe, ist ein Verhältnis der Gegenseitigkeit zwischen dem sich solidarisierenden Individuum und dem Staat USA rational aber nicht zu erwarten. Stattdessen kann der Lohn der "Solidarität mit Amerika" der Dritte Weltkrieg sein. Man kann davon ausgehen, dass dies den meisten sich Solidarisierenden in unterschiedlicher Schärfe bewusst ist - es hindert sie nicht. Es gibt allerdings auch Beispiele rationalen Eigennutzes, im Falle des russischen Präsidenten Putin z.B., der sich mit der gezeigten Solidarität erhofft, sich u.a. der Kritik an seiner Tschetschenienpolitik zu entledigen. Dies zeigt, dass rationale und irrationale Motivationen durchaus mischbar sind.

Im vorigen Kapitel haben wir die Hypothese aufgestellt, "Amerika" sei identisch mit dem Zentrum eines Modells konzentrischer Kreise, das sich "die Zivilisation" nennt, und deshalb - im Gegensatz zu beispielsweise Ägypten - im Falle menschenverursachter Katastrophen Objekt der Solidarität. Was ist "Amerika" für die sich Solidarisierenden? Wenn eine sehr große Zahl von Individuen die Gefährdung des eigenen Lebens durch Krieg in Kauf nimmt, weil "Amerika" angegriffen wurde und "Amerika" selbstverständlich mit Unterstützung der Europäer zurückschlagen muss - so die Solidarisierten - dann ist "Amerika" ein Symbol von so gewaltiger Macht, dass ihm etwas gleichsam Sakrales innewohnt. Kann es sein, dass "Amerika" für die Solidarisierten etwas Heiliges ist?

Die Frage mag sowohl verblüffend als auch polemisch wirken. Indessen haben wir im Rahmen unseres Projekts schon recht häufig Prozesse der Sakralisierung gesehen, deren eigentliches Objekt - nämlich die Symbole und Paradigmen der Ariosophie oder Theosophie - von den meisten Mitgliedern der meisten Organisationen nicht einmal wahrgenommen wurden und werden. Nicht einmal der Armanenorden äußert, er verehre die "arische Rasse15". Sakralisierung insbesondere eines Symbols bedarf keines offensichtlichen Kultes, die Verehrer des "Heiligen" müssen keineswegs wissen, was sie tun. Hier kommt insbesondere das Phänomen der Ersatzreligion zum Tragen, bei welcher einem durchaus profanen Objekt im wörtlichen Sinne Heilsmacht zugeschrieben wird, und dies meist durchaus unbewusst. Einem Heiler, der im Fernsehen auftritt und behauptet, Krebs durch Handauflegen heilen zu können, wird keinesfalls geglaubt (auch nicht, wenn er es könnte), einer neuartigen Apparatur in einem medizinischen Institut würde die Fähigkeit, Krebs durch einmalige Bestrahlung zu heilen, bei entsprechender, dem Laien unverständlicher Präsentation ohne weiteres beigemessen (auch wenn sie es nicht kann, auch wenn sie nur ein Gehäuse ist und die "Mediziner" Schauspieler sind). Das hat nichts mit Rationalität und wenig mit der Macht der Medien zu tun, aber recht viel mit der Zuschreibung von Heilsmacht. Befragte Zuschauer würden jedoch den Vorwurf, einer Ersatzreligion anzuhängen, empört von sich weisen und ihren Status als aufgeklärte, mündige, rationale Bürger herausstellen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sah Émile Durckheim noch einen scharfen Einschnitt zwischen "primitiven" und modernen Kulturen - ein Denkschema, von dem sich die Wissenschaft mittlerweile gelöst hat. Durckheim meinte, ein übereinstimmendes Denken innerhalb einer Gesellschaft werde von den "Primitiven" erzielt, "indem sie ihre Idee der sozialen Ordnung verinnerlichen und sakralisieren. Kennzeichen des Heiligen ist, dass es bedrohlich und zugleich bedroht ist; jeder gute Bürger ist dazu aufgefordert, es zu verteidigen. Die gemeinsame Symbolwelt und die natürlichen Klassifikationen verkörpern die Prinzipien von Autorität und Koordination. In einem solchen System treten keine Legitimationsprobleme auf, weil die Individuen die außerhalb ihrer selbst stehende gesellschaftliche Ordnung in sich tragen und auf die Natur projizieren.16" Da es keinen vernünftigen Grund gibt, dieses Prinzip des Zustandekommens eines übereinstimmenden Denkens auf die "Primitiven" zu beschränken, können wir zumindest die Frage stellen, ob nicht "Amerika" das "Heilige" der "Zivilisation" ist. Wir werden dies hier weder beweisen noch widerlegen können - aber es spricht doch einiges dafür.

Nebenbei bemerkt: Hass auf "Amerika" innerhalb der "Zivilisation" verhält sich wie Satanismus zum Christentum. Amerika ist ein Doppelkontinent, auf dessen Nordhälfte ein Staat namens USA existiert, zu welchem man durchaus aus vielerlei Gründen ein Verhältnis kritischer Distanz haben kann. Dieses Verhältnis teilt man dann mit etlichen Bewohnern dieses Staates, mit denen man sich - jenseits mechanischer Reaktionen auf aktivierte Symbole - solidarisieren kann, wenn man das möchte.

Die "Solidarität mit Amerika" muss nicht darum kritisiert werden, weil "Amerika" böse sei. Sie muss kritisiert werden, weil sie irrational ist, äußerst gefährliche Folgen haben kann und derart verflochten mit der Feindseligkeit gegen den Islam aufgetreten ist, dass eine Verbindung zwischen beiden bestehen muss.

Mary Douglas bezeichnet das, was wir eingangs als Mechanik des Denkens in Assoziationsketten fernab der Rationalität zu fassen versucht haben, als institutionelles Denken. Die Theorie des institutionellen Denkens geht von zwei Hauptthesen aus. Erstens: die Erkenntnis sowie alles Denken sind sozial konditioniert. "Das Erkennen stellt die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebilde katexochen. Schon im Aufbau der Sprache liegt eine zwingende Philosophie der Gemeinschaft, schon im einzelnen Worte sind verwickelte Theorien gegeben...Jede Erkenntnistheorie, die diese soziologische Bedingtheit allen Erkennens nicht grundsätzlich und einzelhaft ins Kalkül stellt, ist Spielerei.17" "Für Fleck setzt der Denkstil den Rahmen für jede Erkenntnis, und er bestimmt, was als vernünftige Frage und was als wahre oder falsche Antwort gelten kann. Der Denkstil setzt den Kontext und die Grenzen für jedes Urteil über die objektive Wirklichkeit. Zu seinen wesentlichen Merkmalen gehört die Tatsache, dass er den Mitgliedern des betreffenden Denkkollektivs verborgen bleibt.18" "Im Zentrum befindet sich eine Elite aus hochrangigen Eingeweihten, im äußeren Bereich stehen die Massen. Die Bewegung geht vom Zentrum aus. Die Peripherie übernimmt von dort die Ideen, ohne sie in Frage zu stellen. An den Rändern kommt es zu einer Verknöcherung. Für Fleck existieren zahlreiche Denkwelten, jede mit einem Zentrum und einer Peripherie, die sich schneiden, sich voneinander abgrenzen und miteinander verschmelzen....19" Der Unterschied zwischen Flecks Denkstil-Theorie aus den 30er Jahren und Durckheims Theorie der sozialen Gruppe, die noch älter ist, sowie Douglas' Auseinandersetzung mit beiden führt hier zu weit. Wir wollen festhalten: die erste Hauptthese vom institutionellen Denken besagt die absolute soziale Bedingtheit der Erkenntnis und des Denkens und mithin eine sozial bedingte Steuerung jeglichen menschlichen Bewusstseinsprozesses durch die Institutionen. Festhalten wollen wir weiterhin, dass die "Denkwelten" des Ludwig Fleck genauso strukturiert sind und funktionieren wie die von Ariosophie und Theosophie infizierten Gruppen der Heidenszene. Auf die Bezüge zwischen diesen und der Gesamtgesellschaft hatten wir ja mehrfach hingewiesen20.

Zweite Hauptthese: Die Institutionen gründen in Analogien21, bestimmen, was als gleich gelten kann22, kennen (und steuern) Erinnern und Vergessen,23 besorgen das Klassifizieren24 und treffen Entscheidungen über Leben und Tod25. Das heißt: die Institutionen, die selbst natürlich keinen Verstand haben26, besorgen das Denken für die Menschen, welche sich einbilden, eigenständige Individuen zu sein. Selbstverständlich ist die Kritik an solchen Theorien seit den Tagen Durckheims nicht verstummt, insonderheit weil sie für die Bewohner des christlichen Abendlandes beleidigend ist und die Fiktion des eigenständigen Individuums nicht nur für das Ego des Individuums Bedeutung hat, sondern auch für Manipulationsstrategien, die voraussetzen, dass die Objekte der Manipulation sich für unmanipulierbar und unmanipuliert halten. Wir erinnern außerdem an Flecks These von der Notwendigkeit des Verborgenbleibens von Denkwelten für deren "Bewohner27". Hier können wir weder auf die Einzeltheorien noch Douglas' Schlussfolgerungen eingehen - zentral für unseren Zweck sind die Erkenntnis von Vorhandensein und Wirkungsweise der Institutionen sowie die These, dass "wahre Solidarität nur in dem Maße möglich (ist), wie die beteiligten Individuen in denselben Kategorien denken.28" Das heißt: Solidarität (im Gegensatz zum Beispiel zu erzwungenem Gehorsam) entsteht und besteht unter, freundlich ausgedrückt, den Bewohnern derselben Denkwelt - härter formuliert: unter denen, deren Denken von denselben Institutionen besorgt wird. "Die Zivilisation" kann also tatsächlich aufgefasst werden als eine Denkwelt, deren - womöglich sakralisiertes - Zentrum das Symbol "Amerika" ist, deren Impulse vom einer "Elite aus hochrangigen Eingeweihten29" ausgeht, die wir in Washington, New York und Hollywood verorten dürfen, und zu deren Klassifikationsmodell Assoziationsketten wie "Bart-Turban-Schuld" ebenso gehören wie ein negatives Bild "der Moslems". Wer mit Solidaritätskundgebungen an "Amerika" reagiert, gehört zu dieser Denkwelt, wer das nicht tut, darf sich wohl unter den "Barbaren" und "Schurken" zugeordnet fühlen.

Wohlgemerkt: eine "Denkwelt" ist kein politisches System, sondern ein kollektives Gebilde, das zwar von Schlüsselstellungen aus manipulierbar ist, aber derart viel Eigendynamik aufweist und über derart große Macht verfügt, dass es politische und ökonomische Machteliten eher mit sich reißt, als ihnen zu Gebote zu stehen. Genau darin besteht seine enorme Gefährlichkeit. Es ist keine Manipulationsmaschine, die von den "Eingeweihten" gesteuert wird - auch in den Organisationen der Heidenszene, die man als "Denkprovinzen" bezeichnen kann, findet man an der Spitze keine Macchiavellis, sondern Gestalten, bei denen man Mühe hat, Betrüger von Betrogenen zu unterscheiden. Auch der sprichwörtliche Macchiavelli, zwar genialer Pionier des politischen Denkens, war gefangen in der "Denkwelt" seiner Zeit, was aufgrund des zeitlichen Abstandes bei der Lektüre seines Werkes durchaus auffällt30. Bei der "Denkwelt" "Zivilisation" haben wir es, wie bei allen Denkwelten, mit dem zu tun, was man in den anglophonen Ländern einen juggernaut nennt: ein rasendes Etwas, das niemand kontrollieren oder stoppen kann. Von einer Schlüsselstellung aus kann man zwar Impulse in die Denkwelt hineingeben, man wird sich aber häufig in der Rolle von Goethes Zauberlehrling wiederfinden, der die Geister zwar rufen, aber nicht wieder loswerden konnte. Und den Meister, dem alle Geister gehorchen, gibt es nicht.

Weder Paranoia noch Resignation sind angemessene Reaktionen auf den offensichtlichen Mangel an Rationalität in der "Zivilisation". Da "Denkwelten" sich gegenseitig durchaus beeinflussen, gilt es, diejenigen zu stärken, die auf "Bart-Turban-Schuld" und dergleichen Unsinn verzichten können und durch "Bart-Turban-Mensch wie ich" ersetzen. In diesem Sinne werden wir uns in den folgenden Kapiteln mit dem Islam und der Feindseligkeit gegen diesen befassen.

3. Die Feindseligkeit gegenüber

dem Islam im christlichen Abendland

Wir stehen hier zuerst vor einem Problem, das so im Rahmen dieses Projekts noch nicht aufgetaucht ist, nämlich der enormen Quantität an Kontext, der bei unserer Untersuchung wichtig ist. Es wirft nämlich große Schwierigkeiten auf, die Feindseligkeit gegen den Islam zu diskutieren, ohne dass klar wäre, was der Islam in Wirklichkeit ist und aussagt. Im Falle des Rassismus besteht dieses Problem nicht, da es völlig klar ist, dass der Rassismus von falschen Prämissen ausgeht. Es gibt weder menschliche Rassen noch Menschen unterschiedlichen Wertes, einen genetischen Determinismus gibt es nicht - fertig. Im Falle der Feindseligkeit gegen den Islam müssen wir ebenfalls von der Existenz falscher Prämissen ausgehen, aber diese müssen wir erst finden, was aber durch Unkenntnis des Gegenstands der Feindseligkeit zu einer Diskussion führen würde, die in der Luft hängt. Nun muss man noch dazu davon ausgehen, dass Vorkenntnisse über den Islam - den realen Islam - innerhalb der Leserschaft in unterschiedlichem Maße vorhanden sind. Da dies ein ungewöhnliches Problem ist, habe ich zu einer ungewöhnlichen Lösung gegriffen: am Schluss des Textes befinden sich drei Exkurse, deren erster vom Islam als solchem handelt, der zweite ist der speziellen Frage der Stellung der Frau im Islam gewidmet, der dritte befasst sich mit dem Begriffspaar "Fundamentalisten" und Gemäßigte".

Wer bislang keine Gelegenheit hatte, sich mit dem Islam zu beschäftigen, sollte an dieser Stelle zuerst die Exkurse lesen, da im Rahmen der folgenden Untersuchung eine grundsätzliche Kenntnis des Islam vorausgesetzt werden muss. Im Hauptexkurs wird auch historischer Kontext und das Verhältnis des Islam zum Christentum besprochen.

Von der Existenz einer Feindseligkeit gegen den Islam muss man aufgrund der Vorverurteilung ausgehen. Mit der "Macht der Medien" hat die oben besprochene Kollektivreaktion nur bezüglich ihrer Intensität zu tun, nicht bezüglich ihres Auftretens. Die Medien können nicht schlagartig eine Feindseligkeit gegen "die Schweden" oder "die Buddhisten" hervorrufen, ebenso wenig wie sie beliebig darstellen können, was und wie sie wollen, ohne Widerspruch zu ernten. Unser oben angeführtes Beispiel mit dem Heiler und der medizinischen Apparatur möge hier als Beispiel dienen. Als solches zeigt es aber auch, dass die Medien bzw. einzelne ihrer Vertreter erhebliche Schwierigkeiten hätten, Wahrheiten zu verbreiten, sofern diese nicht mit der allgemeinen Auffassung der Realität übereinstimmen. Die Schuld liegt nicht nur bei den Lobbyisten, den Werbekunden und den Besitzern des Privatfernsehens. Das sozial geprägte kollektive Denken lässt sich zwar kanalisieren, aber nicht beliebig manipulieren. Das Kriterium für Erfolg oder Misserfolg, d.h. Annahme oder Ablehnung einer Botschaft, liegt im Grad der Übereinstimmung mit dem kollektiven Realitätsbild. "Wahr" ist, was ähnlich ist und keine allzu offensichtlichen Widersprüche aufwirft. Danach müssen sich auch die Medien richten.

"Er (Durckheim, Anm. d. Verf.) und Ludwig Fleck handelten sich einige Schwierigkeiten ein, als sie die Gesellschaft so beschrieben, als sei sie gleichsam ein Verstand in vergrößertem Maßstab. Es entspricht eher dem Geiste Durckheims, die Richtung umzukehren und den individuellen Verstand als verkleinertes Abbild der Gesellschaft zu begreifen. Der Vorgang, durch den eine Idee sich festsetzt, ist ein sozialer Prozess. Dieser Gedanke entspricht der in der Wissenschaftsphilosophie verbreiteten Vorstellung, wonach Theorien sich aufgrund ihrer Kohärenz mit anderen Theorien durchsetzen. Doch die eigentliche Bedeutung des Arguments liegt in der Aussage, dass der gesamte Prozess, in dem eine Theorie sich durchsetzt, ebenso sozialer wie kognitiver Natur ist.31"

Hierher gehört auch der Begriff der kognitiven Dissonanz. Dieser stammt aus der Individualpsychologie und bezeichnet eine stresserzeugende Nichtentsprechung von Ereignissen und Erwartungen: Schrecken. In der Tat arbeitet das Horrorgenre genau mit diesem Element: der plötzlich hervorspringende Kettensägenmann überrascht und durchbricht also Erwartungen (Horror ist nur darum Unterhaltung, weil von vornherein klar war, dass eben dieses geschehen würde), sehr viel nachhaltiger wirkt aber eine fundamentale Außerkraftsetzung der Naturgesetze, wie man sie bei H.P. Lovecraft vorfindet. Ein Rezensent merkte einmal an, dass singende Blumen im Garten nicht etwa freudige Überraschung hervorrufen würden, sondern Entsetzen, obwohl dem Ereignis an sich nichts Schreckliches innewohnt. Ungewohnte Ideen lösen kognitive Dissonanz aus, verursachen Streß und werden darum abgelehnt. Das Phänomen der kognitiven Dissonanz ist der Hüter der kollektiven "Wahrheit", weswegen es jeder, der diese verteidigt, leicht hat, nicht nur auf die "Selbstverständlichkeit" dessen zu pochen, was er sagt, sondern auch sowohl Verkünder neuer Ideen als auch auffällige Andersartige als Schreckensgestalten zu präsentieren. Die mittelalterliche Kirche kombinierte sehr geschickt die Idee jeglicher Abweichung mit der Schreckensgestalt des Teufels.

Ein Teil der Wirkung der Anschläge vom 11. September beruht übrigens auf kognitiver Dissonanz. Hier wirken nicht nur die Überraschung und die Zahl der Toten, sondern auch die Außerkraftsetzung quasi von "Naturgesetzen": "Amerika" wurde getroffen.

Bei der Beschäftigung mit der Feindseligkeit gegen den Islam haben wir stets und ständig mit dem Problem der kognitiven Dissonanz zu tun: immerhin widersprechen wir nicht nur einer kollektiven "Wahrheit" (Muslime - Schuld), sondern wir tun dies, indem wir die Nichtrationalität des kollektiven Denkens aufzeigen. Zweiteres wird mehr Widerspruch auslösen als ersteres, zumal wir oben gesehen haben, dass schon Fleck von der Notwendigkeit des Verborgenbleibens der "Denkwelten" sprach.

Indessen haben wir keine andere Wahl: alle anderen Herangehensweisen werden uns nicht weiterbringen. Dies zeigt sich bereits deutlich in den Schwierigkeiten, zu definieren, was diese Feindseligkeit eigentlich ist.

Die Feindseligkeit gegen den Islam richtet sich nicht gegen den wirklichen Islam, denn dieser ist weitestgehend unbekannt. Sie trifft selbstverständlich den wirklichen Islam und die wirklichen Muslime, aber quasi durch eine Zielscheibe hindurch, auf die ein Zerrbild -eine Teufelsmaske - gezeichnet ist. Eine Berichtigung dieses Bildes wird keineswegs hinreichen, denn auch den Juden hat im Laufe ihrer gesamten Verfolgungsgeschichte eine Richtigstellung ihrer kulturellen und religiösen Identität nie wirklich etwas eingebracht.

Man kann die derzeitige Feindseligkeit gegen den Islam nicht mit dem Holocaust gleichsetzen, aber die Feindseligkeit gegen die Juden und die Feindseligkeit gegen die Muslime haben mehrere Elemente gemeinsam. Im Folgenden sprechen wir vom heutigen Zustand den Muslimen gegenüber und einem vergangenen Zustand den Juden gegenüber der Verdeutlichung halber im Präsens. Juden und Muslime gehören nichtchristlichen Religionsgemeinschaften an; sie waren lange Zeit Zielscheibe kirchlicher Aggression; sie werden vage mit dem Orient in Verbindung gebracht, was bei beiden bezüglich ihres Ursprungs richtig, bezüglich der ethnischen Herkunft der Mitglieder insofern unrichtig ist, als dies eigentlich gar kein Kriterium ist; die im christlichen Abendland lebenden Vertreter waren (Juden: Kleidungsvorschriften) beziehungsweise sind (Muslime: Bärte, Turbane, Schleier, Kopftücher) im Straßenbild auffällig und werden mit diesen Merkmalen identifiziert, was sachlich unrichtig ist; sie weichen teilweise in ihren Sitten - die allerdings weitgehend unbekannt sind, weil sich niemand für sie interessiert - von den christlichen Abendländern ab; werden sozial ausgegrenzt und als Folge dessen schließlich bezichtigt, sich abzukapseln - was Projektionen über finstere Machenschaften Tür und Tor öffnet. Beiden werden folgerichtig kulturell und religiös begründete Verschwörungen gegen das christliche Abendland zugeschrieben.

Zumindest eine Ähnlichkeit besteht also durchaus. Ähnlichkeiten und Analogien sind aber für sowohl das Funktionieren als auch für das Verständnis von Klassifikationssystemen von außerordentlicher Wichtigkeit.

Wenig hilfreich bei unseren Bemühungen wäre es, den historischen Aspekt (Konfrontationen christlicher und islamischer Staaten in der Vergangenheit) über zu bewerten. Dieses Argument benutzt zum Beispiel der äußerst dubiose Berlusconi, um einen Krieg der Kulturen herbeizureden, in welchem die Muslime selbstverständlich die "Bösen" sein sollen. Ganz sicher hat die Feindseligkeit gegen den Islam historische Wurzeln, aber das gehört zu ihren Ursachen und ist nicht ihr Wesen. Wenn übrigens jetzt, Wochen nach dem 11. September (die Arbeit an diesem Text begann kurz danach), Politiker erklären, ein eventueller Krieg sei nicht gegen den Islam gerichtet, dann müssen sie sich sagen lassen, dass es angebracht gewesen wäre, der sofort aktivierten Feindseligkeit sofort entgegenzutreten. Bischof Kock, von dem noch die Rede sein wird, reagierte binnen weniger Tage, und wer das nicht tat, mag sich vielleicht noch von anderer Seite dem Verdacht gegenübersehen, diese Feindseligkeit recht nützlich gefunden zu haben.

Dass die Feindseligkeit gegen den Islam nicht einfach historisch begründet ist, belegt der Umstand, dass zum Beispiel die deutsche Feindseligkeit gegen "die Franzosen", die ja nun lange genug "der Erbfeind" gewesen waren, recht schnell wieder verschwand. Ebenso schnell verschwand die Feindseligkeit gegen "die Russen", die keinesfalls während des kalten Krieges lediglich eine politische Ablehnung der Sowjetunion war. Diese Feindseligkeiten scheinen also einer völlig anderen Kategorie anzugehören, da sie sich ganz anders verhalten. Argumentiert man jetzt in etwa so, die Feindseligkeit gegen den Islam sei ja schon viel früher aufgetreten und hielte sich daher länger, so verkennt man den grundsätzlich ahistorischen Charakter des kollektiven Denkens, das die "Geschichte" lediglich als Projektionsfläche nutzt und sie ständig neu schreibt. "Der Spiegel - sofern die Geschichte ein Spiegel ist - wirft nach der Revision ein ebenso verzerrtes Bild zurück wie vorher. Ziel der Revision ist es, die Verzerrungen den Stimmungen der Gegenwart anzupassen. Aber der Spiegel ist kein gutes Bild für das kollektive Gedächtnis. Wer nach der historischen Wahrheit sucht, der sucht nicht nach einem klareren oder auch schmeichelhafteren Bild seiner selbst. Das bewusste Herumflicken und Ummodeln ist nur ein kleiner Teil der Arbeit, durch die Vergangenheit Gestalt annimmt. Wenn wir uns die Konstruktion vergangener Zeiten genauer ansehen, dann erkennen wir, dass der Vorgang nur wenig mit der Vergangenheit und viel mit der Gegenwart zu tun hat. Institutionen erzeugen dunkle Stellen, an denen nichts zu erkennen ist und keine Fragen gestellt werden. Andere Bereiche dagegen zeigen sie in feinsten Details, die genauestens untersucht und geordnet werden. Geschichte entsteht als nichtintendierte Gestalt aufgrund von Aktivitäten, die auf unmittelbar praktische Ziele ausgerichtet sind. Wenn wir uns ansehen, wie diese Aktivitäten selektive Prinzipien erzeugen, die manche Ereignisse ins Licht rücken und andere im Dunkeln belassen, dann sehen wir damit, wie die Sozialordnung auf den individuellen Verstand einwirkt.[1]"

Zur Verdeutlichung: es ist eine enorme Ressourcenverschwendung, eine Gedankenpolizei zu unterhalten, nur damit Ozeanien schon immer mit Eurasien im Krieg lag. Reale historische und politische Vorgänge sind nie so einfach und plakativ wie in der Literatur, aber prinzipiell verhält es sich so, dass die Gedankenpolizei in Form von kognitiver Dissonanz und den Gesetzen von Strukturen und Kategoriensystemen weder die Gestalt menschlicher Agenten annehmen muss noch darf. Abgesehen von der Frage, wer denn die Wächter bewacht, bewirkt ihr wahrnehmbares Vorhandensein das Nichtfunktionieren dessen, dessen Funktion sie gewährleisten sollen: die Mechanismen der kollektiven Denkprozesse bedürfen der Unsichtbarkeit.

Spricht man also von einer langen Kontinuität der Feindseligkeit des christlichen Abendlandes gegen den Islam, so will man diese entweder damit rechtfertigen oder, im Gegenteil, auf gefährliche Kontinuitäten aufmerksam machen. In dieser Hinsicht ist die Beschäftigung mit dem wahren Islam von großer Bedeutung. Meine Miniatureinführung im Hauptexkurs ist natürlich ebenso wenig objektiv und intentionsfrei wie jede andere auch.

Hier scheint sich ein Widerspruch aufzutun: wenn doch "Geschichte" wie oben beschrieben beschaffen ist und das kollektive Denken mechanisch und irrational ist, wozu dann noch kulturhistorische Argumente beibringen? Nun, hierauf ist folgendes zu erwidern: die Scheinrationalität muss sich als Rationalität ausgeben, oder der ganze Ballon platzt. Das Sichtbarmachen der Mechanismen setzt sie außer Kraft, weiterhin muss den Pseudoerkenntnissen eben das entgegengesetzt werden, was man als "Wahrheit" dem Material eben abringen kann. Die Feindseligkeit gegen den Islam muss ebenso wie die Ariosophie auf zwei Ebenen angegriffen werden: auf der Ebene der Inhalte und der Ebene der Mechanismen, da beide Ebenen untrennbar miteinander zusammenhängen.

Da wir die Ariosophie gerade erwähnt haben, bietet es sich an, zu den Aspekten der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus überzugehen. Zunächst fällt folgendes ins Auge: interessanterweise gilt der Islam als Religion des Vorderen Orients. Nun ist der Islam zwar dort entstanden, weiterhin findet man eine große Anzahl von Muslimen auch dort vor, aber es gibt in Wirklichkeit weiße, schwarze und asiatische Muslime, und zwar überall auf der Erde. Der Islam steht wie das Christentum jedem offen. Weiterhin haben wir oben erwähnt, dass für die Juden lange Zeit der selbe Sachverhalt und das selbe falsche Bild galten, wenn auch der Unterschied zu berücksichtigen ist, dass das Judentum nicht missioniert, ferner dass das Klischeebild des Juden und des Moslems von Phänotyp her nicht gleich, sondern nur ähnlich sind.

Man darf aber wohl behaupten, dass eine spontane Befragung anhand mehrerer Männerportraits zutage fördern würde, dass Männer, die wie Vorderorientalen aussehen, als Muslime identifiziert würden (insbesondere wenn sie traditionelle Tracht wie Bart und Turban tragen), wohingegen weiße Männer in der Regel als Christen identifiziert würden (insbesondere wenn sie den modernen christlich-abendländischen Habitus pflegen). Abgesehen davon, dass es sich genau umgekehrt verhalten kann, ist eine solche Zuordnung hochinteressant. Wir haben ja bereits angesichts der Assoziationskette "Bart-Turban-Schuld" die äußerst eigenartige Verkettung von Äußerem und Religionszugehörigkeit bemerkt, die (so auch in dem Fall, in dem wir sie erstmals bemerkten) völlig falsch sein kann. Auf derlei publizistische Gegenargumente wie den "typischen Moslem" wollen wir hier ob deren Erbärmlichkeit gar nicht erst eingehen, denn das hieße doch, einer Scheinempirie auch noch den Anschein einer Berechtigung zu verleihen. Tut man das, findet man sich schließlich im Kampf mit "Argumenten" wie dem, dass einige Muslime ja wirklich Diebe und Drogenhändler sind.

Noch eigenartiger ist das Phänomen der Feindseligkeit gegen die verschleierte islamische Frau. Abgesehen davon, dass es unverschleierte und keine Kopftücher tragenden Musliminnen gibt, gibt es auch andere Kulturen, in denen Frauen ihr Haar bedecken, also ist auch diese Verkettung nicht sonderlich viel wert. Die besondere Eigenartigkeit besteht aber darin, dass man aufgrund der Interpretation des Islam als frauenfeindliche Religion die verschleierten oder Kopftücher tragenden Musliminnen angreift. Das ist irrational. Abgesehen davon, dass hier deutlich zutage tritt, wer wen kritisieren und angreifen darf, wären die Frauen doch, vorhandene Frauenfeindlichkeit vorausgesetzt, die Opfer und nicht die Täterinnen. Greift man denn schwarze US-Amerikaner wegen des Rassismus in den USA an?

Die Moslem Women's League USA, ohne deren hervorragendes Material unsere Exkurse gar nicht hätten entstehen können, hat der religiösen Verfolgung von Muslimen in Europa einen eigenen Beitrag33 gewidmet, der unbedingt gelesen werden sollte, da er die Tragweite des Problems wohlweislich vor dem 11. September klarmacht. Dort heißt es, dass die Attacken und Übergriffe gegen Frauen, die die Sitte des Hijab befolgen, von einem sehr großen Täterspektrum ausgeht, das von Rassisten bis zu Feministinnen reicht.

Letzteres bietet einen Anhaltspunkt zu einer möglichen Erklärung: da das Bild "der Moslems" ohnehin ein Zerrbild ist, steht zu vermuten, dass Haremsphantasien, wie das 19. Jahrhundert sie liebte, immer noch im kollektiven Bewusstsein des christlichen Abendlandes herumgeistern. Dafür spricht auch die in den Anfangszeiten des Urgesteins des deutschen Feminismus, der "Emma", verwendeten Bezeichnung "Pascha" für Frauenunterdrücker. Wenig bedachtsam wählte man einen Amtsträgertitel des Osmanischen Reiches und assoziierte damit Frauenunterdrückung mit dem Islam und "den Moslems"- als ob das christliche Abendland hierfür die Beihilfe des Islam nötig gehabt hätte. Wir haben der Thematik aus gutem Grund einen eigenen Exkurs gewidmet.

Man macht also, wenn die Feindseligkeit fundamental genug ist, auch die "Opfer" zu "Mittäterinnen", denn Muslime sind sie ja alle. Anders ist es nicht zu erklären, dass europäische Feministinnen Musliminnen attackieren, denn die Musliminnen versuchen ja gar nicht, den Europäerinnen ihre Lebensweise oder ihren Glauben in irgend einer Weise aufzudrängen.

Der Rassismus spielt bei der Feindseligkeit gegen den Islam (oder, in der Diktion der MWL, der Islamophobie) insofern eine Rolle, als das oben charakterisierte Zerrbild einen nicht real vorhandenen ethnischen Aspekt hat, der für Rassisten ein "Rassenaspekt" ist. Es scheint auch einiges darauf hinzudeuten, dass Rassismus über die Islamophobie transportiert wird und daher rassistische Thesen, sofern sie geschickt genug unter der Islamophobie versteckt werden, in der Gesamtgesellschaft um sich greifen können. Dies muss uns ein Anlass sein, der Islamophobie im Rahmen dieses Projekts künftig regelmäßig zumindest einen Seitenblick zu widmen.

Handelt es sich bei der Islamophobie um Fremdenfeindlichkeit? Dazu muss zuerst die Frage beantwortet werden, was Fremdenfeindlichkeit denn nun sein soll. Der Begriff ist klar genug und impliziert im Grunde bereits eine Unsinnigkeit: ein Fremder ist nicht notwendigerweise ein Feind, daher ist Fremdenfeindlichkeit unberechtigt. Soweit die Oberfläche des Begriffs. Er klingt ein wenig nach Antirassismus, der nun wirklich niemandem wehtut - auch den Rassisten nicht - und passt eher in eine lauwarme Ermahnung als in eine scharfe Kritik. Vielleicht erklärt das seine Beliebtheit. Wie viele solcher Begriffe ist er aber unsinnig und vertuscht zugrundeliegende Sachverhalte. Der zentrale Punkt ist nämlich die Definition des Fremden. Die Wohnungen von frisch zugezogenen Schwaben in Hamburg werden nicht angezündet, Niedersachsen werden in Dresden nicht auf der Straße angefallen (die Gefahr besteht allerdings, wenn die Niedersachsen für Muslime gehalten werden, wobei ich aber keine pauschalisierenden Verurteilungen gegen die Dresdner oder gar die Ostdeutschen vortragen will, das wäre falsch, kontraproduktiv und nicht zu verantworten). Schwaben und Niedersachsen sind aber in Hamburg respektive Dresden Fremde. Sie sind nicht fremdartig. Dies trifft aber zu auf den arabischen Obsthändler oder den Arbeiter aus Ghana, und selbst wenn sie viele Jahre im selben Ort in Deutschland leben. Es gibt gar keine Fremdenfeindlichkeit: es handelt sich um eine Fremdartigkeitsfeindlichkeit, wobei die Schuld am Nichtkennen und Nichtwissen in den allerseltensten Fällen bei den "Fremdartigen" zu suchen ist. Für diese Feindseligkeit gibt es, sofern sie sich gegen Menschen anderer Hautfarbe richtet, schon einen anderen Begriff. Er lautet Rassismus.

Die Islamophobie ist nicht deckungsgleich mit Rassismus, ergänzt sich aber mit diesem, kann eine Form des Rassismus sein und ihn transportieren. Die Islamophobie selbst ist, so können wir zusammenfassen, eine Funktion des gesellschaftlichen Kategoriensystems, welches ein Zerrbild des Islam und der Muslime enthält, und zwar als Feindbild an der Peripherie des Systems aus konzentrischen Kreisen, das wir zur Darstellung des Kategoriensystems heranziehen. An der Peripherie des Systems werden Abweichler, Fremdartige und Feinde verortet, indem man ihnen Attribute zuschreibt, die Aggressionen auslösen, und ihnen die Aggressivität und Feindseligkeit aufprojiziert, die die Kultur, um deren System es sich handelt, gegen sie hegt. Die Position "Jude" in einem historischen Zustand des Systems ist nahezu deckungsgleich mit der Position "Moslem" im aktuellen Zustand. All dies zeigt, dass die Islamophobie eine der gefährlichsten Erscheinungen unseres Zeitalters ist.

4. Ausblick

Was ist zu tun?

Es ist klar, dass der Islamophobie mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden muss. Dies muss, wie oben bereits gesagt, auf zwei Ebenen geschehen.

Erstens: inhaltlich. Es kann nicht länger hingenommen werden, dass alle Welt meint, über den Islam richten zu dürfen, und nur eine Minderheit wirklich informiert ist. Seit dem elften September veröffentlichen islamische Gruppen und Organisationen in Deutschland ihren Standpunkt, nämlich die Ablehnung des Terrorismus allgemein und die Verurteilung der Geschehnisse in New York und Washington im Besonderen. Das wird nicht genügen. Dem gefährlichen Zerrbild des Islam und der Muslime muss mit Aufklärung begegnet werden. Das werden die Muslime allein nicht leisten können, zumal es für sie aufgrund der Islamophobie schwer ist, überhaupt Gehör zu finden.

Bischof Kock, der Vorsitzende der evangelischen Bischofskonferenz34, veranstaltete wenige Tage nach dem elften September zu einem Gottesdienst in Düsseldorf, den er zusammen mit Vertretern der katholischen Kirche und solchen der Orthodoxie durchführte. Demonstrativ lud er Juden und Muslime ein, einige wichtige Vertreter dieser Religionsgemeinschaften nahmen die Einladung an. Kock warnte öffentlich davor, "die Welt zu einem Gefängnis zu machen."

Derlei großartige Aktionen seitens Vertretern der Amtskirche sähe man gern öfter. Es ist sehr viel geschehen seit dem Kreuzzugsaufruf von 1096, als der Papst als höchster Vertreter der Christenheit dem Islam den Krieg erklärte. Kock sprach keineswegs ein deus lo volt: er tat das Gegenteil. In der Tat ist jetzt die Zeit gekommen, in der sich weisen wird, wo die Christenheit unserer Tage, kirchlich organisiert oder nicht, mehrheitlich steht. Es wäre schön, käme es endlich zu einem Dialog der monotheistischen Religionen, und zwar in einer Art und Weise, dass auch deutliche Signale in die Öffentlichkeit hinein abgegeben werden. Es wäre besonders wirkungsvoll, wenn die Aufklärung über den Islam demonstrativ von Christen mitgetragen würde.

Hic Rhodos, hic salta, liebe Christen.

Allgemein dürfte vielerorts klargeworden sein, dass das "Nebeneinander der Kulturen" in Deutschland doch wohl nicht ganz war, was es zu sein schien - vom jetzigen Zustand ganz zu schweigen. Die Islamophobie kann und muss aber von allen bekämpft werden, die irgend ein Interesse am friedlichen Miteinander in einer pluralistischen Demokratie haben. Sie kann und muss auch von allen bekämpft werden, die meinen, dass Trägerflotten keine Probleme lösen, sondern darstellen und verursachen.

Zweitens: Auf der Ebene der Mechanismen. Die Vorverurteilung gegen die Muslime und die Islamophobie machen deutlich, dass auch in diesem Bereich einiges im Argen liegt. Die Aufmerksamkeit darf nicht nur auf den Muslimen ruhen, sondern muss sich auch dringend einer Selbstbetrachtung der christlich-abendländischen Kultur zuwenden. Diese wird ganz sicher unangenehm, aber die Alternative ist, eines Tages wieder vor einem Völkermord zu stehen und sich fassungslos zu fragen, wie das denn geschehen konnte. Im Falle der Ariosophie haben wir immer wieder gesehen, wie auf Einzelpersonen oder Randgruppen mit dem Finger gezeigt wurde, was natürlich den Stress der kognitiven Dissonanz verhindert. Solange nämlich "die da" schuld sind, hat man selbst nicht das Geringste zu tun damit, dass Neonazis mittlerweile zum Straßenbild gehören - und nunmehr ihr Glück ob der aktivierten Islamophobie kaum fassen können. Die Islamophobie macht aber hoffentlich klar, dass man sich die Behaglichkeit des Wegsehens nicht länger leisten kann.

Hans Schumacher, Oktober 2001

Weiter zu

Exkurs 1: Der Islam - eine kleine Einführung

Exkurs 2: Die islamische Auslegungskultur

Exkurs 3: Der Islam und die Frauen

Exkurs 4: Vom Unsinn der Unterscheidung zwischen "Gemäßigten" und "Fundamentalisten"


1 Siehe z.B. "Zwei Widersprüche", wo wir aufgrund der Problematik des Vorhandenseins theosophischer Elemente im Wicca dahin kamen, um eine Theorie ringen zu müssen, welche zumindest Ansätze zu einer Erklärung dafür liefern sollte, wie die Theosophie als solche überhaupt Fuß fassen konnte.
2 Ich bin in der Verlegenheit, nicht über Aufzeichnungen der einzelnen Sendungen in erster Linie der ARD zu verfügen, die ich in diesen Tagen verfolgte. Daher bin ich gelegentlich zu Verallgemeinerungen gezwungen und kann nicht einzelne Äußerungen oder Bilder zitieren.
3 Dass dies immer wieder mit recht mäßigem Erfolg aus taktischen Gründen verschleiert wird und wurde, bildete, wie man sich erinnern wird, die erste in diesem Projekt zu nehmende Hürde.
4 Siehe "Wicca - das trojanische Pferd der Theosophie" und "Zwei Widersprüche"
5 siehe "Anmerkungen zum Thema Mythos"
6 Auch hier kann ich keinen Nachweis liefern.
7 Siehe hierzu in erster Linie "Ariosophie - ein Überblick" und "Zwei Widersprüche"
8 siehe "Anmerkungen zum Thema Mythos"
9 siehe "Zwei Widersprüche"
10 siehe ebenda
11 siehe ebenda
12 siehe "Über die Verschleierung..."
13 Douglas, Mary: Wie Institutionen denken, Originalausgabe 1986, Dt. Erstauflage 1991 Frankfurt am Main
14 Douglas, Institutionen, S. 26f.
15 siehe "Ariosophie - ein Überblich
16 Douglas, Institutionen, S. 32
17 Fleck, Ludwig, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 1935, Neuausgabe 1980 Frankfurt am Main, S. 58f., zitiert nach: Douglas, Institutionen, S.31
18 s. ebd.
19 ebd, S. 33
20 erstmals in "Anmerkungen zum Thema Mythos"
21 Douglas, Institutionen, S. 79 ff.
22 ebd., S. 93ff.
23 ebd., S. 113ff.
24 ebd., s. 149ff.
25 ebd., S. 179ff.
26 ebd., S. 25
27 s. Anm. 16
28 Douglas, Institutionen, S. 25
29 s. Anm. 17
30 Macchiavelli, Niccolò, Il Principe/Der Fürst, Stuttgart 1986
31 Douglas, Institutionen, S.79
32 Douglas, Institutionen, S. 113f.
33 Moslem Women's League USA: Religious persecution in europe: focus on Muslims, http://www.mwlusa.org
34 Ich bin nicht sehr vertraut mit dem Aufbau der protestantischen Kirche in Deutschland und mir daher der korrekten Bezeichnung hier nicht sicher, beteuere aber, dass eine entstellende Absicht keineswegs vorliegt. << Ariosophy - Overview | Liste Nach Autoren | Exkurs 1: Der Islam - eine kleine Einführung >>

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