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Die Befreiung des Sexes von der Psychologie |
„Entpersönlichung der sexuellen Begegnung“ klingt erst einmal bedrohlich, denn gewöhnlich verbindet man damit Kälte, Desinteresse und die Benutzung des anderen als bloßen Gegenstand. Gilt es nicht als zivilisatorische Errungenschaft, dass seit der Romantik sexuelle Beziehungen gefühlsmäßig aufgeladen und psychologisiert werden, um ihnen so Tiefe zu geben? Auch in der modernen Tantraworkshop-Kultur geht es um das Gegenteil von Entpersönlichung: um die Aufarbeitung sexueller Traumata und persönlicher Blockaden, um die individuelle Auseinandersetzung mit dem, was man an Gefühlen und Gedanken zum Sex mit sich herumschleppt. Wenn das Unbewusste ans Licht kommt, so die Idee dahinter, kann sich der Energiefluss frei bewegen. Doch diese psychotherapeutische Interpretation des Tantra scheint mir nur ein Trick unserer Kultur zu sein, mit einer ihr fremden Kunst der Selbstformung klarzukommen:
Seit zwei Jahrhunderten zählt es in den westlichen Kulturen als Ausweis von Individualität und Selbstreflexion, wenn der oder die Einzelne die eigenen seelischen Eingeweiden immer und immer wieder durchwühlt, erforscht und hinterfragt. Das ist, wie der französische Gesellschaftsanalytiker Michel Foucault gezeigt hat, zum einen ein Erbe der jahrhundertealten christlichen Gewissensprüfung. Der bußfertige Gläubige sollte zu seinem eigenen Seelenheil immer wieder nachforschen, in welchen dunklen Winkeln seiner Persönlichkeit sündige Gedanken lauern. Die systematische Methodik der Selbstergründung, die sich bis zum 17. und 18. Jahrhundert im Christentum immer weiter ausdifferenzierte, prägte das analytische Selbstverständnis der in den kirchlichen Institutionen erzogenen Eliten. Von den Seminaren, Kollegien, Schulen und Universitäten des 18. Jahrhunderts ist es nicht mehr weit bis zum Streben junger Menschen in der Romantik, sich durch den Blick auf das „Innere“ permanent zu vergewissern, dass man und wie man individuell, einzigartig war.
Dass diese Söhne und Töchter bürgerlicher Familien als Angehörige eines kulturellen Leitmilieus das Selbstverständnis einer ganzen Epoche prägen, ist aber nur eine Facette des Themas. Denn die permanente Selbstüberprüfung erfüllt einen tieferen Zweck: Sie ist ein Weg der modernen Industriegesellschaft, sich selbst zu optimieren. Letztere braucht gesunde, arbeitsfähige, kreative, autonom handelnde Menschen, die ihr Leben im Griff haben. Andernfalls drohen blutige Amokläufe in Schulen, Alkoholismus und Burn-Out-Syndrom. In unserer Epoche haben die Psychologen die Priester abgelöst. Um unser Leben besser und glücklicher zu machen, konsultieren wir nicht mehr den Katechismus, sondern die Ratgeber-Literatur.
Ich werde auf diese Methode unserer Gesellschaft, sich selbst zu regulieren, sowie auf ihre Geschichte, weiter unten noch einmal zurückkommen. Doch jetzt schon wird verständlich, wie nahe liegend es für uns als Angehörige der westlichen Welt ist, Methoden der psychologischen Selbsterforschung und Therapierung auch auf fremde spirituelle Traditionen zu übertragen, wenn wir sie uns einverleiben.
Wo das östliche Tantra als rituelle Methode eingesetzt wurde, strebte es Macht oder Befreiung an, nicht psychische Heilung. Die Tatsache, dass sein Umgang mit Sexualität zutiefst unpersönlich, überpersönlich und pragmatisch ist, ist nicht zuletzt eine Folge seines rituellen Charakters. Im Ritual geht es nicht um das, was man denkt oder fühlt, und auch nicht um die eigene persönliche Geschichte oder die Geschichte des rituellen Gegenübers. Im Ritual geht es um die gewissenhafte und aufmerksame Ausführung von Handlungen, ganz gleich, was einem dabei durch den Kopf schießt oder welche seelischen Beschädigungen man mit sich schleppt. Nun gibt es einen Abkömmling im westlichen Neo-Tantra, in dem das Rituelle und die damit einhergehende Entpersönlichung besonders betont werden. Seine wachsende Verbreitung bestätigt, dass die westliche Psychologisierung des Tantra nicht funktioniert. Im Gegenteil, das „alte“ Tantra schleicht sich in unsere Schlafzimmer. Ich meine die Tantramassage.
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