Das Internet-Magazin des Rabenclans
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Macht |
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Sowohl angesichts der enormen Kräfte, die die sexuell-okkulten Riten versprachen, wie auch aufgrund der Übermittlung der familiären Clanessenz war Tantra lange Zeit eng verwoben mit Herrschaft und Macht. Tantra genoss die Gunst von Königen und Aristokraten: Besondere Tempelanlagen, die als geeignete Orte zur Verehrung und Verkörperung der Gottheiten galten, standen unter der Patronage der Herrscher, wurden gefördert und neu gebaut. Tantrische Orden wie Spezialisten erhielten Land, Schutz und Steuerbefreiungen. Tantrische Experten waren so einerseits integraler Bestandteil der höfischen Kultur, andererseits „verkauften“ sie ihre magisch-rituellen Dienstleistungen zur Zerstörung und zur Heilung an potente Auftraggeber. Tantra war im Mittelalter deshalb auch eine magische Herrschaftstechnik. So spielten machtvolle tantrische Clans eine entscheidende Rolle bei der Einsetzung und Salbung von Königen, denn sie stellten den Zugang zu oder die Abstammung von einer Clan-Göttin her. Der Regent und Beschützer des Landes verbindet und verbündet sich mit der Göttin als Verkörperung der Erde und des Landes. Er sitzt dadurch im Zentrum eines Mandalas von Clan-Yoginī und vereinigt die unterschiedlichen Familien auf seine Person. Die Clan-Göttin kann einerseits als Schutzgöttin wohlwollend und segensreich sein, andererseits grausam in ihrem Zorn. Öffentliche Opfer von Büffeln, Pferden, Ziegen, in Kriegszeiten sehr wahrscheinlich auch von Menschen sicherten den Wohlstand des Landes und den militärischen Erfolg des Königs. Daneben gab es den verborgenen Weg der Machtaneignung, wie er in den sexuell-okkulten Riten vollzogen wurde. Auch hier ist der König mit seinen umfangreichen Machtinteressen der ideale tantrische Akteur. Im kriegerischen Frühmittelalter Indiens war die Sprache und Bilderwelt des Krieges mit erotischen Konzepten durchsetzt und diese Verschränkung findet sich im königlichen Gebrauch des Tantra und seiner Vereinigung mit den gewalttätigen Göttinnen wieder.
Allerdings war das Tantra in der individualisierten Form eine Praxis von Eliten, keine Alltagskultur des breiten Volkes. Der volkstümliche Mainstream des Tantra bestand schon damals in anderen Umgangsweisen mit den gefährlichen Göttinnen: Pilgerschaften, öffentliche Prozessionen, rituelle Tänze, Orakel und wie geschildert vor allem Opferungen. Auch hier findet sich das doppelgesichtige Element der Göttinnen und Halbgöttinnen. Einerseits als wilde zornige Wesen, mit realen und symbolischen Bezügen zu Tod und Vernichtung, zu Friedhöfen, Leichen, zerstückelten Menschen, Blut, Schädeln. Andererseits als wohlwollende Mütter, die Quelle von Freude, Gesundheit, Wohlstand und auch der Verführung sein können. Die schwarze Kali, die von abgeschlagenen Köpfen umgebene rote oder schwarze Chamunda, die blutdurstige Tara, die kriegerische Durga, die liebliche oder zornige Kamakhya und viele andere sind Beispiele für solche Göttinnen, die vielfältig mit lokalen und tribalen Traditionen, alltäglichen magischen Bezügen und mit den unterschiedlichsten Formen der Verehrung für den Haushaltsbedarf verbunden waren. Bis zum Auftauchen des gereinigten Neohinduismus im 19. Jahrhundert, der heute das indische (Selbst-)Bild prägt, gehörte dieses volkstümliche Tantra sogar zu den verbreiteteren Kultformen in Südasien.
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Die sexuellen Tantravarianten waren dagegen schon früh Kritik ausgesetzt und deshalb auch Gegenstand von Reformen und Überarbeitungen. Bereits im Mittelalter entstanden so mystischere Varianten des sexuellen Tantra − zum Beispiel im 11. Jahrhundert in Kashmir als Versuch, Tantra in breiteren Schichten der Bevölkerung akzeptabel zu machen. Diese Varianten, die die individualisierte Herangehensweise fortsetzten, systematisierten das Verständnis des fluiden Kräftesystems und der Überwindung der Dualität. Es entwickelten sich spiritualisierte Schulen der Selbstformung, die nun anstelle der Macht die Erkenntnis und die Befreiung als Ziel des Rituals setzten. In ihnen wurde Tantra meditativ: War der Sexualakt vorher nur Mittel zur Herstellung eines magischen Stoffs, galt er nun − buchstäblich oder symbolisch − selbst als Instrument der Erleuchtung. Der Orgasmus wurde zur Chiffre für den göttlichen Bewusstseinszustand von Licht und Leere. Der Flüssigkeitsaustausch wurde auf die symbolische und metaphorische Ebene gehoben. Götter und Ritualorte verwandelten sich zu Bewusstseinsformen und Zentren im Körper. Komplexe Methodiken entstanden, in denen Mantras, Mandalas, Invokationen und Meditationsübungen eine hohe Schule der Bewusstseinssteuerung ermöglichten. Inspiriert durch importierte chinesische Lehren der Körperalchemie fasste man den Prozess der Erregung als komplexes, steuerbares Spiel von Energieflüssen auf: Diese treffen auf fünf, sieben, acht oder mehr rotierende Räder („Chakren“), die als Verteilzentren oder Blockaden wirken. Ein solches Tantra hat seinerseits sowohl in spirituellen Erkenntnislehren und monastischen Organisationen als auch in individualisierten yogischen Traditionen Verbreitung und Weiterentwicklung gefunden.
Tantra verstreute sich im ganzen Raum, in Tibet, Nepal, Birma, Thailand, Kambodscha, China, Japan, Korea, Bali, sowohl in brahmanischen wie in buddhistischen, jainistischen und sogar in Sufi-Milieus. Asien hat eine lange und komplizierte Geschichte mit den tantrischen Traditionen. Einerseits finden sich noch heute tantrische Praktiken in unterschiedlichsten Formen, die grenzüberschreitend, sexualisiert oder auch mit Todes- und Leichenkulten verbunden sind. (Selbst bei europäischen Anhängern von Schulen des tibetischen Tantrismus kommt gelegentlich der Konsum von Menschenfleisch, Sperma oder Menstruationsblut als Element von heiligen Ritualstoffen vor.) Andererseits war das Tantra im Laufe der Jahrhunderte Gegenstand vielfältiger Versuche, die anstößigen Elemente durch „höherwertige“ Methoden oder Zielsetzungen zu überformen. Während der britischen Kolonialbesetzung Südasiens fand dies sowohl Unterstützung bei den christlichen Besetzern wie bei religiösen Modernisierern, die das dunkle Erbe verdrängten, neu definierten oder gar leugneten. Die Frage, ob zum „wahren“ Tantra wirklich sexuelle Riten gehören, ist bis heute Teil des ideologischen Schlachtfelds des politischen Neohinduismus. Einerseits haben führende angelsächsische Forscher wie Alexis Sanderson, Hugh Urban, Wendy Doniger oder Geoffrey Samuel in gebotener akademischer Differenziertheit dem Professeor für religiöse Studien David White den Rücken gestärkt. Andererseits gab es auf Whites Buch „The Kiss of the Yoginī“ wütende Reaktionen von radikalen Teilen der Hindu-Diaspora-Gemeinde in den USA.
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