Hrafndaelar Saga - Ein Experiment
Material für Teilnehmer
Wichtiger Hinweis: Dieser Text ist nicht als Sachartikel über Isländersagas zu verstehen. Er sollte Festteilnehmern, die nie zuvor mit Isländersagas in Berührung gekommen waren, das Mitspielen ermöglichen. Dementsprechend stellt er die Literaturgattung stark verkürzt und vereinfacht dar.
1. Isländersagas
Die sogenannten Isländersagas (Íslendingasögur) unterscheiden sich deutlich von anderen Richtungen der Sagaliteratur. Für die gesamte Sagaliteratur gilt aber, dass sie Literatur ist und war, das heißt eine Textgattung, die ihr Material in einer für die jeweilige Literaturgattung charakteristischen Form fasst. Diese Form gehört zur jeweiligen Literaturgattung und verändert daher den zugrunde liegenden Stoff. Die ältere Forschung hielt die Isländersagas aufgrund ihres lakonisch-trockenen Stils und der Glaubwürdigkeit der Schilderung noch für aufgezeichnete Tatsachenberichte. Heute geht die Skandinavistik davon aus, dass Isländersagas zwar häufig reale Vorgänge in stark veränderter Form zugrunde liegen und in ihnen teilweise Charaktere auftreten, die wirklich gelebt haben, aber der Literaturcharakter der Sagas ist heute unumstritten.
Die Isländersagas entstanden lange nach dem Übertritt der Isländer zum Christentum im Jahre 1000, die meisten werden ins 12./13. Jh. datiert. Sie schildern Begebenheiten in Island kurz vor oder während der Bekehrungszeit, sind also einerseits ein Spiegel des heidnischen Island, andererseits aber auch dessen literarische Bewältigung durch isländische Gebildete, die aller Wahrscheinlichkeit nach zumeist Kleriker und alle Christen waren. Entsprechend wird die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Heidentum durch zahlreiche literarische Kunstgriffe unterschiedlicher Subtilität in den Isländersagas hervorgehoben.
Der Übertritt der Isländer zum Christentum, ein Beschluss des Allthing, vollzog sich vor dem Hintergrund einer Invasionsdrohung seitens des Norwegerkönigs Olav Tryggvasson, der zuvor Norwegen zwangschristianisiert hatte. Trotz dieser Entscheidung gerieten die Isländer wenig später unter norwegische Oberhoheit. Eine Literaturgattung, geschrieben von Isländern für Isländer, kann auch als kritischer mittelalterlicher Diskurs aufgefasst werden, in dem Schreibende ihre Sicht der Zeit des Heidentums und der Unabhängigkeit ihrer erlebten Gegenwart gegenüberstellten, deren Probleme gelegentlich sogar in den Vordergrund treten. Ein Beispiel hierfür ist die Saga vom Hühnerthorir, deren Hauptprotagonist durch sein (für die Sagazeit modern-aktuelles) egoistisch-marktwirtschaftliches Verhalten eine Krise auslöst, der die Vertreter der "sagatypischen" Lebens- und Handlungsweise hilflos gegenüberstehen. Daneben findet man antiheidnische Polemik wie die Saga vom Goden Hrafnkel, deren Hauptprotagonist von seinem Patron, dem teufelhaft gezeichneten Freyr, zuerst zum Mord und dann in den Ruin getrieben wird. Er rettet sich durch Abkehr vom Heidentum.
Dass Fehde, Totschlag und Rache die typischen Elemente der Handlung einer Isländersaga sind, ist im Rahmen dieses Kontexts zu sehen. Es geht den Schreibern nicht zuletzt darum, zu zeigen, warum der kollektive Übertritt zum Christentum trotz des Auftauchens neuer Probleme der richtige Schritt war.
Unsere Saga
Die moderne Skandinavistik hat gezeigt, dass der überaus komplexe Hintergrund einer Sagahandlung (zum Beispiel im Bereich der Rechtsbeziehungen) in den Isländersagas zumeist korrekt wiedergegeben wird, aber hin und wieder ohne große Bedenken zugunsten der Dramatik der Handlung verzerrt wird. Ich stehe hier vor der Schwierigkeit, diesen Hintergrund in diesem Rahmen im Grunde überhaupt nicht vermitteln zu können. Den Teilnehmern kann freilich auch nicht zugemutet werden, vier Semester Skandinavistik zu studieren, bevor sie mitspielen. Ich werde daher im Folgenden eine Reihe wichtiger Punkte zum Thema "Saga-Verhältnisse" und "Sagatypisches Verhalten" auflisten, die ihrerseits bereits holzschnittartige Vergröberungen sind. Dass die Saga dadurch zwangsläufig von vornherein nahezu zur Karikatur wird, ist nicht zu ändern.
Bei der Durchführung des Experiments werde ich selbst als der Erzähler agieren, also als diejenige Person, die in einer echten Saga spricht. Als Erzähler werde ich eine Anfangskonstellation vorgeben und dann den Dingen freien Lauf lassen. Wenn (und falls) die Anfangssituation auf irgend eine Weise zu einer Art Abschluss kommt, werde ich wieder erscheinen und "Zeit vergehen lassen". ("Den Rest des Winters saßen alle daheim, und es blieb alles ruhig zwischen ihnen").
Ich bitte die Teilnehmer zwar, zu versuchen, ihre Sagafigur möglichst "sagagerecht" (s.o.) zu verkörpern - aber wie und in welchem Ausmaß sie das tun, bleibt ihnen überlassen. Vor allem appelliere ich zur Mäßigung, sollte es im Verlauf der Handlung zu Totschlägen und Kämpfen kommen - nicht in dem Sinne, es nicht dazu kommen zu lassen, sondern in dem Sinne, den anderen Teilnehmern keinen echten Schaden zuzufügen.
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